DIPLOMARBEIT
Titel der Diplomarbeit
Schreiben im Werden
Boris Juchananov
Verfasser
Mag. Andreas Schmiedecker, BA
angestrebter akademischer Grad
Magisterder Philosophie (Mag.phil.)
У меня есть тайная мысль, что реальность умнее меня.
(Борис Юхананов, „У тeбя в руках твоя голова“)
1. Schreiben / Literatur. Theoretischer Rahmen und Zielsetzung. 7
2. Äußerung / Spaltung. Begriffe und Überblick. 11
II. Werden. Boris Juchananov. 17
1. Kultur und sovremennost' 17
III. Schreiben. Моментальные записки. 31
1. Tod und Tagebuch. Die Form der Aufzeichnungen. 38
2. Material und Montage. Das Erbe der Bibliothek. 42
3.2 Video-Mensch und Aufschreibe-Mensch. 56
4.1 Bildung und Entwicklung. 65
V. Schluss. Poetik des Gegenwärtigen. 93
VI. Изложение на русском языке. 94
„Schreiben ist eine Sache des Werdens, stets unfertig, stets im Entstehen begriffen, und lässt jeden lebbaren oder erlebten Stoff hinter sich. Es ist ein Prozess, das heißt ein Weg, der sich dem Leben öffnet und das Lebbare und Erlebte durchquert.“[
Gilles Deleuze
„Я даже определял для себя, что занимаюсь тем, чего нет и быть не может.“
Boris Juchananov
1. Schreiben / Literatur. Theoretischer Rahmen und Zielsetzung
Eine literaturwissenschaftliche Arbeit, gleich welcher Schlagrichtung, setzt einen gewissen Begriff ihres Gegenstandes voraus, der Literatur selbst, mit dem weitere Begriffe eng und dadurch erklärt verbunden sind – wie etwa „Autor“, oder „Werk“. Der Fall der vorliegenden Arbeit verlangt jedoch eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Begrifflichkeiten, denn sie soll sich mit Texten und deren „Autor“ beschäftigen, die eben diese Voraussetzungen immer aufs Neue befragen.
Das „Werk“ des Regisseurs, Schriftstellers, Schauspielers und Theoretikers Boris Jurevič Juchananov entzieht sich einer einfachen Kategorisierung. Obwohl vor allem als Theaterregisseur bekannt, arbeitet Juchananov in verschiedenen Medien und knüpft an unterschiedliche ästhetische Traditionen an. All seinen Projekten gemein ist jedoch eine grundsätzliche Befragung des Mediums, in dem sie stattfinden. Juchananov fordert die Methoden der künstlerischen Aussageproduktion fundamental heraus und rüttelt an etablierten Werkkonzepten und Arbeitsweisen. Repräsentativ seien hier genannt: der Roman Моментальные записки сентиментального солдатика, dessen Form der ununterbrochenen Aufzeichnungen einer spezifischen Realität auf die Probleme des Verhältnisses zwischen „Schreiben“ und „Leben“ hinweist; die „1000 Kassetten“ des Video-Romans Сумасшедший Принц (1986-1992), die auf grundsätzliche Weise die Möglichkeiten der Videokunst befragen; sowie mehrjährige Theaterprojekte wie der Сад-Zyklus oder ЛадораТОРИЯ, die darauf aufmerksam machen, auf welch vielfältige Weise Leben und performatives Spiel verbunden sein können – in jedem Projekt Juchananovs, deren umfassende Beschreibung bei Weitem den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, ist eine unbändige Lust zu finden, sich den grundsätzlichen Parametern des kreativen Schaffensprozesses und seiner Rezeption zu widmen.
Für eine theoretische Arbeit, die mit diesen Umständen in direkten Austausch treten möchte, bietet es sich an, mit den eigenen methodologischen Begrifflichkeiten ebenfalls früh anzusetzen. Das eingangs angeführte Zitat von Gilles Deleuze ist in dieser Hinsicht äußerst wertvoll: Es stellt vor einen Begriff der „Literatur“ zunächst den Begriff des „Schreibens“. Im Unterschied zum „Schreiben“ ist die Konzeption von „Literatur“ inhärent politisch – es gäbe keine Literatur im „westlichen“ (und nach wie vor gängigen) Sinne des Wortes ohne die Wirkungsgeschichte des Präfixes „National-“. In diesem Sinne ist der Begriff zunächst ausschließlich als ein funktionaler zu verstehen, wie es auch Jacques Derrida in einem Vortrag über das Schreiben von Maurice Blanchot ausgedrückt hat:
„Keinerlei Aussage, keinerlei diskursive Form ist innerlich oder wesensmäßig literarisch vor oder außerhalb der Funktion, die ihr ein Recht, das heißt eine direkt in den sozialen Körper eingeschriebene spezifische Intentionaliät zuschreibt oder zuerkennt.“[3]
Der Vorgang der Zuerkennung, den Derrida hier beschreibt, ist direkt mit den Institutionen der „Literatur“ verbunden. Diese sind von besonderer Bedeutung, wenn von Werken gesprochen werden soll, die zum Teil in eine „Periode“ der „Literatur“ fallen, die man „sowjetisch“ nennen könnte. Ein Grundanliegen dieser Arbeit besteht demzufolge darin, zu zeigen, dass Boris Juchananovs künstlerische Projekte stets an den Randlinien zwischen spät- oder postsowjetischen Institutionen zu verorten sind. Sie erhalten ihre „spezifische Intentionalität“ eben nicht von einem mehr oder weniger klar definierten Corpus, der bestimmt, was „Theater“, „Film“, „Literatur“, im weitesten Sinne also „Kunst“ ist – vielmehr wählt Juchananov Formen und Mittel, die genau diese Zugehörigkeitskriterien produktiv in Frage stellen.
Damit sind seine Aussagen durchgehenden „prozesshaft“,[4] ein Attribut, das auch Deleuze seiner Vorstellung vom „Schreiben“ zuordnet – der Glaube an das Entstehen im Tun, an die mannigfaltigen Möglichkeiten der Verknüpfung zwischen „tun“ und „leben“. Der hier formulierte Gedanke der Prozesshaftigkeit lässt sich in weiterer Folge mit der Figur einer prinzipiellen Unabschließbarkeit in Verbindung bringen, die sowohl dem künstlerischen Schaffen als auch dem „Leben“ eigen wäre, und damit auch den Kategorien des Lebbaren und Erlebten, die Prozess des Schreibens durchdringen. Dies sind Problemstellungen, die Juchananovs Werk bestimmen, gleichzeitig aber Brücken schlagen zum Denken von eben Deleuze oder Derrida, aber auch in besonderem Maße von Michail Bachtin, und hier vor allem zu dessen Frühwerk.
„Искусство и жизнь не одно, но должны стать во мне единым, в единстве моей ответсвенности“,[5] schreibt Michail Bachtin bereits 1919 in einem kurzen Text, der sich als programmatisch für sein weiteres Schaffen zeigen wird. Obwohl vor allem im Kontext seiner damaligen Beschäftigung mit der Ontologie als Suche nach einer „ersten Philosophie“,[6] „т. е. учением не о едином культурном творчестве, но о едином и единственном бытии-событии“[7], und als allgemeinmöglichste Formulierung der Verbindung der beiden genannten Größen zu verstehen, lässt sich diese Maxime auch für das vorliegende Projekt zu Rate ziehen. Die eben beschriebenen spezifischen Charakteristika von Juchananovs Werk sollen in der vorliegenden Arbeit auch in ständiger Wechselbeziehung zu Juchananovs Leben stehen. Damit soll keinesfalls das Ziel formuliert sein, Juchananovs „Biographie“ zu schreiben, oder die jeweiligen künstlerischen Projekte aus persönlichen Entwicklungen und Umständen heraus zu erklären. Vielmehr geht es darum, die spannungsreiche Beziehung zwischen den rätselhaften Polen von „Kunst“ und „Leben“ als integralen Bestandteil von Juchananovs künstlerischer Praxis zu verstehen.[8] Wenn im Rahmen dieser Arbeit so etwas wie der Versuch einer Juchananov’schen Poetik formuliert werden kann, dann im Rahmen dieser Größen und in Bezug auf die Überlegungen von Michail Bachtin. Im Einverständnis damit, sollen Juchananovs Projekte nicht als edinoe kul'turnoe tvorčestvo verstanden werden, sondern immer in Bezug auf ihre Einzigartigkeit im Leben des Künstlers und dessen Verhältnis dazu. Stellvertretend dafür wird Juchananovs Roman Моментальные записки сентиментального солдатика im Zentrum dieser Arbeit stehen – das technische Verfahren der ständigen Aufzeichnungen, das Juchananov hier anwendet, wird als Veranschaulichung dieser Verflechtungen von „Kunst“ und „Leben“ verstanden.
Damit kann es weder das Ziel dieser Arbeit sein, das Leben und das Schreiben Boris Jur'evič Juchananovs zu behandeln als wären sie ein- und dasselbe; noch kann es darum gehen, das eine zu beschreiben und dabei das andere gänzlich zu ignorieren. Der Begriff der otvetstvennost', der in Bachtins Frühwerk eine zentrale Stellung einnimmt, wird in dieser Hinsicht auch zum Leitfaden der wissenschaftlichen Beschäftigung. Einerseits lässt er sich mit „Verantwortung“ übersetzen, für den redlichen Umgang mit eigenen und fremden Ideen, mit dem Setzen von Schwerpunkten, die trotzdem für das Schaffen eines Künstlers repräsentativ bleiben. In diesem Sinne muss Bachtins Maxime des „einheitlich Werdens“ (stat‘ edinym) als Leitfaden dafür verstanden werden, mit einer wissenschaftlichen Arbeit den Ideen eines Künstlers in adäquater Form umzugehen, ohne so zu tun, als wären sie austauschbar (odno). Darüber hinaus bedeutet der Begriff auch „Antworthaftigkeit“ – so wie Juchananovs künstlerische Techniken im dialogischen Austausch untereinander und (im Falle der Theaterprojekte) der teilnehmenden Personen existieren, soll auch in dieser Arbeit ein dialogischer Aufbau versucht werden, der, unter anderem, über die Sphäre der spezifisch russischen Theoriebildung, die durch die Arbeiten Bachtins repräsentiert wird, hinausgeht.
Konkret geht es dabei um die Möglichkeit einer parallelen Lektüre von Juchananovs Texten, Bachtins Philosophie und ausgewählter Gedanken aus der französischen Denktradition nach dem zweiten Weltkrieg, in diesem Fall um Jacques Derrida und Gilles Deleuze. Deleuzes Konzeption eines Schreibens als Verkettung, als Prozess, auf die bereits zu Beginn kurz hingewiesen wurde, kann als komplementär zum Literaturbegriff gelesen werden, der sich aus Juchananovs Texten ergibt. Derridas Theorien zur Schrift kommen vor allem dann zum Tragen, wenn es um Juchananovs Aufzeichnungstechnik im Zusammenhang mit seiner theoretischen Beschäftigung mit dem Video-Medium gehen soll. Das wissenschaftliche Spektrum dieser Theoretiker deckt Überlegungen ab, die sowohl literaturtheoretischen als auch philosophischen Fragestellungen zuzuordnen sind (und im Falle von Bachtin und Derrida auch spezifisch sprachwissenschaftlichen). Die vorliegende Arbeit tendiert zu einer literaturtheoretischen Zugangsweise; trotzdem soll die Lektüre durch sekundärwissenschaftliche Zugänge, die die jeweiligen Theoretiker als Philosophen verstanden haben, informiert werden, wie etwa einführende und kontrastive Artikel von Rainer Grübel und Michael Holquist.
In diesem Sinne lässt sich Bachtins Konzept der otvetstvennost' auch anwenden, um den Austausch zwischen verschiedenen Sprach- und Denktraditionen zu rechtfertigen und damit die Widerstände abzumildern, die entstehen können, wenn der Versuch unternommen wird, „russische“ Literatur in Zusammenhang mit „französischer“ Theorie zu lesen. Ein Text von Deleuze und Claire Parnet etwa, aus dem im Folgenden noch zitiert werden soll, ist in seiner Gesamtausrichtung von dieser gegenseitigen Antworthaftigkeit durchdrungen. Der Titel des Textes, „Von der Überlegenheit der anglo-amerikanischen Literatur“,[9] lässt sich, jenseits der inhärenten Polemik, die im Wort „Überlegenheit“ steckt,[10] als Hinweis auf den immerwährenden Austausch spezifischer (nationaler, sprachlicher) „Literaturen“ untereinander verstehen. Dadurch, dass Deleuze und Parnet der französischen Literatur Defizite gegenüber einer spezifischen anglo-amerikanischen zuschreiben, zwingen sie erstere zu einer Öffnung gegenüber einer anderen Tradition, und damit, der anglo-amerikanischen Literatur „Rede und Antwort“ zu stehen. Diese Öffnung gegenüber dem Anderen ist auch ein zentraler Bestandteil von Michail Bachtins Philosophie und stellt ein weiteres Grundthema der vorliegenden Arbeit dar.
2. Äußerung / Spaltung. Begriffe und Überblick
Der Begriff des Werdens kann auch im Zusammenhang mit Gegensätzen oder Spaltungen verstanden werden. Wie bereits angedeutet, lässt sich Juchananovs künstlerisches Schaffen nur über flüchtige und temporäre Berührungspunkte mit statischen Institutionen oder Formen in Verbindung bringen. Das Werden als Überwindung der Spaltung lässt sich allerdings nicht, im dogmatischen marxistisch-leninistischen Sinne, als „Einheit der Gegensätze“ verstehen, sondern vielmehr als Aufenthalt zwischen verschiedenen Sphären oder Welten. Diese Welten könnten, als konkretes Beispiel, etwa die Kunst des andergraund und der „offiziellen“, subventionierten Kunst sein – zwei Welten, die eben in den 1980ern und 1990ern der UdSSR und Russlands in direkten Kontakt traten. Sie können aber auch, auf einer grundsätzlicheren Ebene, die Welten von „Kunst“ und „Leben“ sein. Um eine Drehbewegung weiter formuliert ist dieser Gegensatz in Michail Bachtins fragmentarisch gebliebenen frühen Aufsatz „К философии поступка“ („Zur Philosophie der Handlung“, ca. 1921), nämlich als Gegensatz von theoretischer und praktischer Welt:
„мир, в котором объективируется акт нашей деятельности, и мир, в котором этот акт единожды действительно протекает, свершается.“[11]
„die Welt, in der der Akt unserer Tätigkeit objektiviert wird, und die Welt, in der dieser Akt ein einziges Mal tatsächlich verläuft, vollzogen wird.“[12]
Bachtin geht es um den Gegensatz all dessen, was er „theoretisch“ nennt, also etwa durch Sprache vermittelt, objektiviert, abstrahiert, zu den konkreten, einzigartigen Handlungen des Lebens, die etwa auch den Akt des Denkens umfassen. Daraus folgt für Bachtin eine klassische philosophische Fragestellung, ein grundlegendes Paradoxon:
„Никакая практичкская ориентация моей жизни в теоретическом мире невозможно, в нем нельзя жить, ответственно поступать, в нем я не нужен, в нем меня принципиально нет.“[13]
„Eine praktische Orientierung meines Lebens in der theoretischen Welt ist unmöglich, in ihr kann man nicht leben, verantwortlich handeln, in ihr werde ich nicht gebraucht, in ihr gibt es mich prinzipiell nicht.“[14]
Diese Formulierungen sind jedoch weniger als Postulat einer generellen Spaltung zu verstehen, sondern vielmehr als Kritik an einem philosophischen Paradigma, das diese Spaltung überhaupt erst ermöglicht hat. Bachtins Überlegungen versuchen Momente zu finden, in denen das menschliche Sein nicht in diese beiden gegenüberliegenden Pole aufgeteilt wird. Zentraler Begriff ist für ihn in diesem Zusammenhang das Wort postupok, in der englischen Übersetzung als „act“, in der deutschen als „Handlung“ übertragen. Michael Holquist und Katerina Clark drücken die Konzeption mit Hilfe des Begriffs „ethical activity“ aus.[15] Als postupok, eigentlich „An-“ oder „Herantreten“, ist genauso eine gedankliche wie sprachliche und jede andere Lebensaktivität zu verstehen. Dieses Herantreten ist immer auch ein Moment der Gestaltung der Welt:
„[I]m Moment der Handlung wird die Welt augenblicklich umgestaltet, wird ihre wahrhafte Architektonik, in der alles theoretisch Denkbare nur ein Moment ist, wiederhergestellt.“[16]
Der „Moment der Handlung“ ist deshalb ein Grenzbereich der Berührung, ein Moment des Werdens. In weiterer Folge wird Bachtin diesen Bereich, der hier noch sehr allgemein formuliert ist, konkret auf künstlerische Aktivitäten beziehen. Im Sinne Bachtins und vermutlich auch Juchananovs könnte nun argumentiert werden, dass es genau diesen Grenzbereich braucht, um Kultur im weiteren und Kunst im engeren Sinne zu schaffen. Im etwas späteren Aufsatz „Проблема содержания, материала и формы в словесном вхудожественном творчестве" (1925) formuliert Bachtin genau diesen Gedanken in Bezug auf die Bedingung der Möglichkeit der Schreibens. Es findet für Bachtin in eben diesem Grenzbereich zwischen den Welten statt, der im Leben durch die „ethische Aktivität“ erreicht wird:
„Внутренной территории у культурной области нет: она вся расположена на границах, границы проходят повсюду, через каждый момент ее [....]. Каждый культурный акт существенно живет на границах: в этом его серъезность и значительность;“[17]
„Im Bereich der Kultur gibt es kein inneres Territorium: er ist vollständig an Grenzen gelegen, überall, durch jedes seiner Momente verlaufen Grenzen; [...] jeder kulturelle Akt lebt wesentlich an Grenzen: Darin bestehen seine Ernsthaftigkeit und seine Bedeutsamkeit;“[18]
Diese spezielle Qualität des „sich an der Grenze befinden“[19] spiegelt sich auch im Begriff der vnenachodimost', Bachtins Konzeption der „Außerhalbbefindlichkeit“[20] wieder.
Insofern das Kunstwerk nun in dieser Übergangssphäre zwischen innen und außen und der Arbeitsprozess als produktives Werden verstanden wird, stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Begriffs „Werk“ im Zusammenhang der Beschreibung der künstlerischen Projekte Juchananovs. In einer späteren Arbeit, die sich zwar im engeren Sinne linguistischen Fragestellungen widmet, trotzdem aber mit grundsätzlichen Gedanken seiner frühen Essays verknüpft ist, schlägt Bachtin einen anderen Begriff vor. Im Zuge seiner Abhandlung zum „Проблема речевых жанров“(1952/53) spricht er an zentraler Stelle von der vyskazivanie (Äußerung):
„Ведь язык входит в жизнь через конкретные высказывания (реализующие его), через конкретные же высказывания и жизнь входит в язык.“[21]
Die vyskazivanie als grundsätzliche Kategorie der reč, als Voraussetzung für jede Art von künstlerischem Ausdruck, erscheint im Rahmen dieser Arbeit als geeignete Kategorie um über Juchananov zu sprechen. Über spezifisch sprachwissenschaftliche Fragen hinaus liegt der Verdienst von Bachtins Essay vor allem in der Suche nach kategorischen Begriffen, die das Phänomen der reč in seinen speziellen Eigenschaften fassen können – flexibel und situativ anpassbar, deswegen treffender als die starren Begriffe der Grammatik und Stilistik, dabei aber konkret genug um den Anforderungen der wissenschaftlichen Methodologie zu genügen. Weil die Begrifflichkeiten des Strukturalismus, gegen die Bachtin hier auch anschreibt, der komplexen und widersprüchlichen Realität der menschlichen Rede nicht entsprechen, führt er Begriffe wie žanr oder eben vyskazivanie ein. Es sind dies Kategorien, die jederzeit selbst im Werden und im Entstehen sind. Das žanr, das die systematische Form jeder Äußerung bestimmt, ist genauso abhängig von der spezifischen Sprechsituation wie auch von den Äußerungen die ihr vorhergegangen sind. Die mannigfaltigen Verbindungen zwischen Leben und Sprache lassen sich für Bachtin am Treffendsten mit Hilfe dieser Kategorien fassen. Es sind Kategorien, die sich deswegen immer in Bewegung befinden, aber dadurch vereint sind, dass sie nur in ihrer Äußerlichkeit (Veräußerung), als konkrete (sprachliche) Handlung (postupok) existieren können. Sie haben deshalb nur periphere Berührungspunkte zu grammatisch/stilistischen oder sozio-linguistischen Versuchen, die menschliche Sprache zu kategorisieren. Dies lässt sich auf die Fragestellungen der vorliegenden Arbeit übertragen: Eben weil die künstlerische Praxis Juchananovs eher Kontakte „im Vorbeigehen“, aber keine vollständige Deckung, sowohl mit kulturellen Institutionen, als auch mit Begriffen wie „Literatur“ und „Werk“ aufweist, soll diese Praxis in Bezug auf die Begriffe „Schreiben“ und „Äußerung“ verstanden werden.
Wenn „Werden“ als zentrale Kategorie der Beschäftigung mit Juchananovs Arbeiten eingeführt werden soll, geschieht dies auch um zu unterstreichen, dass diese Äußerungen bewusst mit den äußeren Formen einer jeweiligen Gattung, eines Genres, eines Kontextes spielen, und in diesem Sinne immer als eine Befragung des Möglichen zu betrachten sind. Juchananovs künstlerische Praxis erschöpft sich nicht darin, die offensichtlichen Äußerungsformen wiederzugeben, die in einem gewissen ästhetisch-sozialen Kontext als gegeben betrachtet werden können (wie etwa die Form des narrativen Films, eines psychologisch-realistischen Theaters im Sinne seines Lehrers Anatolij Ėfros, oder eines auktorialen Romans). Stattdessen entwickelt sich die Form des Ausgedrückten in Juchananovs Behandlung im Prozess, und befragt die Möglichkeiten des jeweiligen Mediums immer neu. Aufzeigen lässt sich diese Tendenz etwa deutlich am Beispiel seiner Theaterproduktionen, die durch wiederholte Neuauflagen (redakcii) sich nie auf eine abgeschlossene Form festlegen, und gleichzeitig immer neue Kategorien der Ausdrucksmöglichkeiten inkorporieren. Als Beispiel seien hier Juchananovs Bearbeitungen von Goethes Faust erwähnt, die zwischen 1999 und 2009 in sechs verschiedenen redakcii gezeigt wurden. Die jeweiligen Produktionen nehmen sowohl Anleihen an klassisch-realistischer Figurenzeichnung als auch an Elementen eines mystisch-kultischen Theaterereignisses (im Stile eines performativen Happenings) sowie spezifisch ausgeformter Theaterpraktiken – in konkreten Fall spielt ein teatr košek eine entscheidende Rolle. Die Beschäftigung mit dem Faust-Stoff erschöpft sich also nicht in einer Ausdrucksform. Vielmehr ist jede neue redakcija eine neue Befragung der Möglichkeiten des Mediums.
Damit ist Juchananovs künstlerische Praxis bereits als Praxis eines unablässigen Befragens charakterisiert. Wieder kann auf Formulierungen von Bachtin zurückgegriffen werden, auf seine Konzeption des Dialogischen, oder auf die im Essay über die Redegenres formulierten Gedanken zur Antworthaftigkeit einer Äußerung gegenüber anderen Äußerungen, die inhärente Bezugnahme jedes eigenen Wortes auf ein fremdes Wort:
„Экспрессия высказывания всегда в большей или меньшей степени отвечает, то есть выражает отношение говорящего к чужим высказываниям, а не только его отношение к предмету своего высказывания.“[22]
Die direkte Übernahme Bachtin’scher Kategorien auf das Schreiben von Juchananov, birgt allerdings Schwierigkeiten, da Juchananov selbst etablierte Begrifflichkeiten deutlich weiterentwickelt und in Bezug auf eigene Äußerungen zugespitzt hat. So stellt er etwa neben den Begriff des Dialogischen, wie man ihn bei Bachtin finden würde, den Begriff des dilogs:
„Можно ввести такой термин как дилог. Две монологичные, творящие эвристичные речисоединяются в едином процессе, не конкурируя, не замещая, не толкая друг друга, а как бы участвуя каждая в своём процессе творения и в отмене творения.“[23]
Die Möglichkeit eines gegenseitigen Befragens ist also in jedem Fall gegeben, allerdings bemüht sich Juchananov einer Konzeption des Dialogischen auszuweichen, um eine andere Nuance des künstlerischen Schaffensprozesses auszuleuchten. Damit soll nicht gesagt sein, dass eine „dilogische“ Konzeption Juchananovs Äußerungen erschöpfend erklären oder analysieren soll. Vielmehr soll diese kurze theoretische Skizze darauf hinweisen, dass Juchananovs Arbeitsweise nur als konstante und ruhelose Befragung des Möglichen beschreibbar scheint. Sie ist geprägt von zahlreichen Vorstößen formaler und theoretischer Natur. Wie bereits angedeutet, liegt es nahe, auch die Begriffe, anhand derer man sich diesen Äußerungen widmet, einer genauen Prüfung zu unterziehen. Dazu lohnt sich der Blick in Juchananovs eigene theoretische Werke. Oft findet sich in diesen Artikeln bereits ein Begriff oder die Umdeutung eines geisteswissenschaftlich belegten Begriffs, die zum produktiven Weiterdenken anregen. Im Laufe dieser Arbeit sollen derartige Begriffe wie novaja processualnost‘ oder matrica nach Möglichkeit erklärt und in Verbindung sowohl zu verwandten Begrifflichkeiten als auch zu Juchananovs eigenen künstlerischen Arbeiten gebracht werden. Keineswegs sollen sie aber unkritisch übernommen werden – die Gefahr einer Hermetisierung eines bestimmten Korpus, wenn man „hauseigene“ Begriffe für die „Erklärung“ künstlerischer Phänomene heranzieht, liegt auf der Hand und kann das gesamte Unterfangen der vorliegenden Arbeit in der Tautologie versanden lassen.
In diesem Spektrum, zwischen Kunst und Leben, Schreiben und Werden, Formen und Möglichkeiten sollen Juchananovs Äußerungen besprochen und verortet werden. Die theoretischen Hintergründe dieses Vorhabens wurden in dieser Einleitung bereits angesprochen und sollen im weiteren Verlauf der Arbeit entsprechend vertieft werden. Als zentraler Werkbezug wird Juchananovs Roman Моментальные записки сентиментального солдатика herangezogen – eine dnevnikovaja rabota, die den „real erlebten“ Armee-Alltag des Schriftstellers aus den frühen 1980ern mit den eben angerissenen theoretischen Fragestellungen verknüpft. Die Fragen und Begriffe, die als grundsätzlich für Juchananovs Schaffen formuliert wurden, zeichnen sich anhand dieser frühen Arbeit mit großer Deutlichkeit ab. Der Roman ist nicht im Druck erschienen, zur Untersuchung wurde eine Redaktion von 2008 aus Juchananovs Archiv herangezogen, für deren Zurverfügungstellung ich Boris Jur'evič und seiner Mitarbeiterin Leda Timofeevna zu großem Dank verpflichtet bin. Dem gegenüber gestellt wird, als kurzer Coda der Arbeit, eine der letzten Äußerungen Juchananovs, die roman-opera Сверлийцы, die im Jahre 2012 ihre Premiere feierte. Die Arbeiten sind durch knapp dreißig Jahre getrennt und decken somit auch die Jahrzehnte von Juchananovs bisherigen künstlerischem Schaffen ab.
Ein Anliegen der vorliegenden Diplomarbeit liegt auch darin, aus dieser zeitlichen Spanne produktive Einsichten in eine generelle künstlerische Poetik zu finden. Dieser Versuch betritt Neuland, insofern Juchananovs Texte, die hier besprochen werden sollen, bislang keinen Eingang in den Bereich der kanonisierten oder organisierten Kulturkritik im weiteren Sinne gefunden haben. Als solches birgt die vorliegende Lektüre spezifische Risiken (etwa in ihrem Bezug auf kaum bekannte Texte schwer verständlich zu bleiben; in ihrem multiperspektivischen Lektürezugang eine klare Zuspitzung der Fragestellung vermissen zu lassen) aber auch ebenso viele spezifische Chancen (vor allem darin, Lektüre jenseits der ausgetretenen akademischen und spezifisch disziplinären literaturkritischen Pfade zu betreiben).
Doch dem „Werden“ im Titel dieser Arbeit verpflichtet, soll zunächst versucht werden, eben diese drei Jahrzehnte im Überblick zu besprechen und Anknüpfungs-, Spaltungs- und Berührungspunkte mit Institutionen verschiedener Ordnung anhand des Lebens und Schaffens von Boris Jur'evič Juchananov zu nennen. Dabei geht es keinesfalls um eine „abschließbare“ Übersicht oder groben Biographismus als Erklärung sondern darum, eine Position gegenüber einem Leben, einem Prozess, zu finden – in Gilles Deleuzes, nunmehr wiederholten, einleitenden Worten: „ein Weg, der sich dem Leben öffnet und das Lebbare und Erlebte durchquert.“[24]
II. Werden. Boris Juchananov
1. Kultur und sovremennost'
Biographische Abrisse entstehen immer in Wechselbeziehung zu einer offiziellen Lesart der „Geschichte“ einer bestimmten (nationalen, ethnischen, ästhetischen, etc.) Gemeinschaft. Die von Historikern niedergeschriebene Abfolge und Relation von Ereignissen, Meistern und Meisterwerken liefert den Hintergrund für die Relation einer künstlerischen Biographie zu einem historischen Kontinuum. Reibungen tauchen auf, wenn sich ein individueller „Weg“ gegen diese Schematik abhebt, sie sogar in Frage stellt. Für die akademische Besprechung eines solchen „Weges“ bedingt diese, in Bachtin’scher Begrifflichkeit, vnenachodimost' (außerhalb der breitgetretenen Wege der Historiographie) eine weitere Schwierigkeit: Wenn sich ein Künstler nicht im kanonisierten Raum befindet, und sich nur bedingt in der akademischen und damit begrenzten „historischen Wirklichkeit“ (im Falle eines Regisseurs: der Inhalt gängiger Theatergeschichtswerke) aufhält, bleibt meist kein anderer Weg, als auf die Selbstbeschreibung des Künstlers zurückzugreifen. Dem kann mit einer Verlagerung des Fokus begegnet werden: Weniger als einen biografischen Abriss der Entwicklung Juchananovs vor dem Hintergrund einer (bekannten) sozio-kulturellen historischen Realität zu liefern, sollen Bemerkungen zu einer gegenseitigen Beleuchtung und Infragestellung festgehalten werden. Demzufolge kann die künstlerische Aktivität Juchananovs als „außerhalb der Strukturen befindlich“ auch mit den Worten Bachtins beschrieben werden:
„Эта вненаходимость (но не индифферентизм) позволяет художественной активность извне объединять, оформлять и завершать событие.“[25]
„Diese Außerhalb-Befindlichkeit (nicht aber Indifferenz) gestattet es der künstlerischen Aktivität, das Ereignis von außen zu vereinigen, zu formen und zu vollenden.“[26]
Obwohl Bachtins Äußerung im eingangs skizzierten Zusammenhang der Frage nach der künstlerischen Aktivität als ethisch-ästhetisches Handeln im Leben zu betrachten ist, bringt das Umlegen auf eine historische Situation einen neuen Blickwinkel mit sich. Das an sich nicht abschließbare historische Ereignis der Gegenwart erfordert einen künstlerischen Blick „von außen“, um in einer vollendeten[27] Form des Kunstwerkes eine spezifische Aussage über die Gegenwart zu treffen. Juchananovs Position außerhalb gängiger Strömungen kann also seinen Projekten eine besondere Relevanz in diesem Sinne zuschreiben.
„Nichtoffizielle“ Kultur hat im Kontext der Sowjetunion einen besonderen Beiklang. Die Kultur des samizdat wurde in verschiedenen „westlichen“ Ländern, soweit möglich, besonders lebhaft rezipiert; die unüberschaubare Anzahl an exilierten Schriftstellern und Werken, die ihre erste Publikation im „Westen“ erlebten, werfen das Problem eines ortsgebundenen Charakters einer spezifisch russischen Literatur immer wieder aufs Neue auf. Über dreißig Jahre nach dem offiziellen Ende der Sowjetunion stellt sich allerdings die Frage, ob durch die darauf folgende Öffnung von Archiven, Rehabilitation von Schriftstellern (was allerdings auch in sowjetischer Zeit in periodischen Abständen geschah) nicht bereits eine Überlagerung und Assimilierung dieser ursprünglich parallelen kulturellen Gedächtnisse vor sich gegangen ist. Ursprünglich „nichtoffizielle“ Kultur hätte demnach in Folge einer Tradition der Aufarbeitung und Erinnerungsarbeit,[28] bereits ihren Zugang zur offiziellen Kultur gefunden, zumindest im Blickwinkel ihrer historischen Bearbeitung.
Die Jugendkultur der 1980er jedoch, der Moskauer und Leningrader andergraund im Allgemeinen und die Sphären von Theater und Perfomancekunst im Speziellen, scheinen diesen Eingang noch nicht gefunden zu haben. Weder in der 1999 erschienenen History of Russian Theater[29] noch in einem 2005 erschienenen russischen Gegenstück, История русского драматического театра: от его истоков до конца ХХ века[30] findet sich eine nennenswerte Beschreibung der Untergrundkultur der 1980er. Der Name Juchananovs taucht ebenfalls in keinem der beiden Werken auf. Obwohl im Bereich der Film- und Videokultur einige Studien existieren,[31] steht eine systematische Beschreibung dieser Kultur im Kontext anderer Strömungen und Bewegungen bisher noch aus.[32]
In diesem Mangel an institutioneller Verortung steckt jedoch gleichzeitig auch das Potential, ein „Werden zwischen den Strukturen“ zu beschreiben. Juchananovs Arbeiten sind von einer Leichtfüßigkeit geprägt, zwischen verschiedenen Graden der Institutionalisierung, zwischen akademischen und künstlerischen Zusammenhängen frei zu wechseln. In der Terminologie von Gilles Deleuze und Félix Guattari könnte man von einer minoritären, „kleinen“ Kultur sprechen, die sich zwischen den Verästelungen der „großen“, offiziellen Kultur bewegt.[33] Das bedeutet keinesfalls, dass etablierte Strukturen ignoriert oder nicht genutzt werden würden. Im Gegenteil, die Bewegungsfreiheit, die durch fehlende Kanonisierung bedingt wird, lässt eine kreative Nutzung existierender Kanäle und Institutionen zu, wodurch im Idealfall die freie Wahl der Mittel und Gegenstände zu einem breiteren Oeuvre führt.
Diese bewusste Grenzüberschreitung der Sphären von professioneller Kultur und Amateurkultur wird auch in den meisten Kritikerstimmen zu Juchananovs Projekten erwähnt (die sich meist auf die Theaterinszenierungen beschränken). Stellvertretend sei auf einen Artikel von John Freedman verwiesen, der Juchananovs fünfte und sechste regeneracija des Сад-Projektes (1996/1997) wie folgt beschreibt:
„Yukhananov's production was a bold, occasionally inspired, occasionally unwatchable attempt to establish a contemporary theatrical language for Chekhov's text. It had the feel of an exalted amateur production in which anti-professionalism and the joyous mockery of tradition were the keynotes.“[34]
Freedmans kurze Stellungnahme enthält einen Begriff, dessen Erläuterung für die weitere Besprechung von Juchananovs Ästhetik von Nutzen sein kann: „contemporary“ -sovremennyj. Der Begriff der sovremennost' ist gerade in der sowjetischen (literarischen) Tradition mit bestimmten Bedeutungen aufgeladen. Seine jeweilige Interpretation ließ sich in der Organisation der Literaturproduktion als Ausschließungs- oder Unterstützungskriterium für Schreibstile, Inhalte etc. anwenden und damit argumentieren, warum ein gewisser Schriftsteller gerade sovremennyj (oder eben nicht) genannt werden konnte und demzufolge aus dem System ausgeschlossen werden konnte.[35] Michail Bachtin erwähnt den Begriff im seinem fragmentarischen Aufsatz über den Bildungsroman („Роман воспитания и его значение в истории реализма. К исторической типологии романа“, ca. 1936-38) im Kontext von Goethes Konzeption von Gegenwärtigkeit in dessen Aufzeichnungen, vor allem in der Italienischen Reise:
„Современность для него [Goethe, Anm.] — и в природе и в человеческой жизни — раскрывается как существенная разновременность: как пережитки или реликты разных ступеней и формаций прошлого и как зачатки более или менее далекого будущего."[36]
Diese Beschreibung der sovremennost' als raznovremennost' kommt der künstlerischen Praxis Juchananovs bereits sehr nahe. Wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, birgt etwa seine Konzeption des „Aufzeichnungsromans“ die Möglichkeit der komplexen Formung verschiedener Zeitebenen. Die dort vorgenommenen Problematisierungen der Positionen von „Autor“ und „Aufzeichnender“ stellen die Frage nach dem Zeitpunkt der künstlerischen Aktivität und lassen dabei unterschiedliche Antworten zu.
Doch wie lässt sich diese sovremennost‘ erreichen? Freedmans Beschreibung als „anti-professionalism“ und „joyous mockery“ deckt sich mit Juchananovs eigenen Worten über die Beziehung zwischen etablierter, akademischer Kultur und dem andergraund, wie er es in einem unveröffentlichten Artikel aus dem Jahre 1986 formuliert:
„После своих приключений в академической культуре я понял, что профессионализм – это просто фикция; тот профессионализм, которому учат в высших учебных заведениях, в частности в режиссерском факультете. Это понятие недостаточно сказать, сумбурное; оно просто никакое. И обратившись к «андерграунду», я вижу, что все самые острые идеи, к которым сейчас приходит академическая культура, здесь уже давно существуют и разрабатываются без лишних слов.“[37]
Insofern, wie es Juchananov hier ausdrückt, professionalizm nicht als vom andergraund klar abgetrennte Sphäre wahrgenommen wird, stellt sich die Frage nach bewusstem Grenzgängertum gar nicht mehr – vielmehr werden Grenzen im Schaffen selbst überschritten, bzw. im kreativen Prozess nicht als Störfaktor eingeplant. Diese Tendenz soll im nun folgenden kurzen Überblick über Stationen in Juchananovs künstlerischer Entwicklung veranschaulicht werden. Dieser Abriss hat weniger den Charakter einer Auflistung aller Tätigkeiten, als vielmehr den eines Versuchs, Knotenpunkte und brauchbare Begriffe aufzugreifen und näher zu beschreiben, insofern sie für die darauf folgende Analyse hilfreich sein können.[38]
2. Lehrer und Schüler
Boris Jur'evič Juchananov wird am 30. September 1957 in Moskau geboren. Seine erste künstlerische Station ist das Moskovskij Teatr Kukol (MTK), bald darauf tritt er ins Voronežskij Institut Iskusstv ein, das er 1979 mit der Ausbildung zum Theater- und Filmschauspieler abschließt. Nach einem kurzen Intermezzo als Schauspieler im Brjansker Provinztheater tritt er 1982 in die Regieklasse von Anatolij Ėfros am Moskauer Theaterinstitut GITIS (Gummanitarnyj Institut Teatral'nogo Iskusstva)[39] ein, lernt bei Anatolij Vasil'ev, der wohl prägendsten Regiestimme im Russland der 1980er. Juchananov ist auch bei dessen Produktion von Viktor Slavkins Серсо (1985 im Teatr na Taganke, „often regarded as the best production of the 1980s“)[40] als Regieassistent beschäftigt. Juchananov selbst gibt beide Namen als die für seine Entwicklung einflussreichsten an: „А учителями в режиссуре у меня были только Эфрос и Васильев.“[41]
Beide Einflüsse sind sowohl prägend als auch repräsentativ für eine bestimmte Tradition: Ėfros ist, ähnlich wie Jurij Ljubimov, Vertreter einer Generation, die sowohl das Aufblühen der Theater in der „Tauwetter“-Periode, als auch die darauffolgende Einschränkung der künstlerischen Freiheit und deren Nachwirkungen selbst erlebte. Ėfros wurde in den 1970ern vorübergehend von seiner Lehrtätigkeit am GITIS suspendiert und in das „Theater an der Malaja Bronnaja“ (Moskovskij dramatičeskij teatr na Maloj Bronnoj) zwangsversetzt.[42] 1984 übernahm er schließlich nach Ljubimovs forciertem Exil dessen Leitung des Teatr na Taganke bis zu seinem Tod – ohne allerdings jemals von Ljubimovs loyaler Truppe tatsächlich akzeptiert zu werden. In ästhetischer Hinsicht kann Ėfros wohl als gemäßigter Reformator der etablierten Schauspiel- und Regietechniken beschrieben werden, oder, in Maria Brauckhoffs Worten, als „einer der wichtigsten sowjetischen Vertreter und Erneuerer des ‚Psychologischen Realismus‘ Stanislavskijs.“[43] Damit ist Juchananov einerseits, in ästhetischer Hinsicht, mit der technisch meisterhaften Auslegung einer traditionellen Schauspieltechnik konfrontiert, andererseits, in institutioneller Hinsicht, mit einer fundamentalen Unsicherheit in Bezug auf die Strukturen, in denen diese Ästhetik möglich gemacht wird. In seiner eigener Darstellung von Ėfros' Regietechnik bezeichnet Juchananov ihn als Vertreter eines „teatr risunka“:
„[...] он просто рисовал живого человека при помощи мелодии, реализуемой и коментируемой в его показе хода.“[44]
Ėfros' künstlerisches Selbstverständnis ist für Juchananov geprägt von absoluter Stilsicherheit und gestalterischer Ausdruckskraft, die letztendlich vor allem vom Regisseur als treibende Kraft ausgeht und damit wenig an schauspielerischer Eigeninterpretation oder Gestaltung interessiert ist:
„При таком подходе любой актёр становится единомышленником, если слышит, что предлагается и не сопротивляется этому.“[45]
Die Beziehung zwischen Text, Regie und Schauspiel ist bei Ėfros demnach eine direkte Linie, in der der Regisseur die gestaltende Kraft darstellt – in dieser Hinsicht ganz in der Tradition des Theater Stanislavskijs.
Anatolij Vasil'ev wiederum, auf dessen enormen Einfluss auf die russische (und internationale) Theaterszene bereits hingewiesen wurde, nimmt in bühnenästhetischer Hinsicht eine Schlüsselposition in Juchananovs Werk ein, von der er sich aber im Weiteren auch bewusst distanzieren wird. Vasil'evs Konzeption eines „Vertikalen Theaters“[46] wird von Juchananov aufgenommen, hochgeschätzt, aber auch adaptiert.[47] Diese Theorie kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht behandelt werden; an dieser Stelle soll nur kurz auf die Bedeutung Vasil'evs für Juchananov eingegangen werden. So beschreibt Juchananov etwa in einem Abschnitt seiner Tagebücher aus dem Jahre 2001, die im Sammelband Театр и его дневники aufscheinen, von einer sehr gespannten Beziehung zu Vasil'ev. Innerhalb dieser Tagebucheinträge findet sich auch ein kurzer Text mit der Bezeichnung „Торжество Сарумана Серого. Саруман Серый. Толкиен“.[48] Die Beschreibung eines Charakters aus dem Herrn der Ringe lässt sich unschwer als Polemik auf das Wirken und die Stellung von Anatolij Vasil'ev deuten. Juchananov zeichnet ein kurzes Porträt eines mächtigen, jedoch der Kunst der Täuschung verfallenen Mannes. Am Ende des Textes findet eine Transformation statt: Saruman wird von nun an mit Kleinbuchstaben geschrieben und ist als saruman nicht mehr Name, sondern Konzept („не имя, но понятие“).[49] Damit ironisiert Juchananov die Verwandlung von Vasil'ev in eine Ikone, in ein Konzept, das schon längst nicht mehr für einen Künstler, sondern vielmehr für die Sehnsucht einer Gesellschaft nach einer bestimmten künstlerischen Ausdrucksform steht, die jedoch unweigerlich ein Zeichen der Vergangenheit ist. Die Kanonisierung und damit der Stillstand der künstlerischen Aktivität Vasil'evs scheinen die Folge davon. Auch wenn in diesem Tagebucheintrag eine polemische Stilisierung stattfindet, scheint die weitere Entwicklung Juchananovs Porträt recht zu geben: Vasil'ev verließ Moskau kurz darauf, seine Inszenierungen liefen zwar weiter in seinem Theater, der Škola dramatičeskogo iskusstva wurden aber bloß, wenig inspiriert, „fertig gespielt.“[50]
Diese Betrachtungsweise einer künstlerischen Entwicklung im Spiegel von pädagogischen Einflüssen hat gewiss ihre Berechtigung. Sie ist aber, speziell in Hinblick auf den Fall Juchananovs, auch kritisch zu betrachten: Er selbst schreibt „Нужно выйти из-под оппозиции «учитель–ученик».“[51] Denn obwohl Juchananov in den 1980ern Teil des starren Systems der GITIS-Ausbildung ist, bleibt er in anderen, alternativen Kunstsphären äußerst aktiv. Neben den Brüdern Gleb und Igor' Alejnikov ist er eine der Schlüsselfiguren des so genannten Parallel'noe Kino. Im Gegensatz zur Literatur, bildenden Kunst oder Musik war es in der Filmkunst bis dahin logistisch deutlich schwerer, autonome Kunstwerke zu schaffen, wenn man sich außerhalb der staatlich organisierten Industrie etwa der Produktionsstudios Mosfil'm oder Lenfil'm befand. Erst ab den frühen 1980ern wurde es einerseits aufgrund gelockerter staatlicher Kontrolle, andererseits aufgrund besserer Verfügbarkeit von Equipment und neuer Technologie, wie etwa tragbarer Videokameras, möglich, „inoffizielle“ Film- und Videokunst auf dem Territorium der Sowjetunion zu betreiben.
Die Aktivität solcher frei schaffender Gruppen ist eng mit dem Namen SineFantom verknüpft – diese für die Äußerungen der genannten Filmemacher zentrale Zeitschrift wurde ab 1985 im Eigenverlag herausgegeben und erschien zunächst in unregelmäßigen Abständen. Obwohl das Magazin der Alejnikov-Brüder in Leningrad beheimatet war, kam der Kontakt mit dem vor allem in Moskau tätigen Juchananov zustande. SineFantom existiert nach wie vor (allerdings „more like a brand than an organization“,[52] wie es Olaf Möller ausdrückt) und bleibt mit Juchananovs Arbeit verknüpft – so wurde etwa der Premiere der roman-opera Сверлийцы im Dezember 2012 eine Sondernummer gewidmet, die auch einen längeren Text Juchananovs enthielt.[53] Auch noch in den späten 1980er-Jahren erschienen einige von Juchananovs theoretischen Texten im SineFantom-Magazin. Abgesehen von Möllers Artikel existieren wenige Texte zum Parallel'noe Kino im Allgemeinen und kaum etwas zu Juchananov im Speziellen. Dies liegt zunächst daran, dass das internationale wissenschaftliche Interesse am inoffiziellen Filmschaffen dieser Periode kaum jemals richtig entflammte, wie Olga Ljalina formuliert:
„Außerhalb der geographischen und zeitlichen Grenzen von Cine Fantom war [das Parallel’noe Kino, Anm.] unbemerkt geblieben. Das ‚Parallele Kino‘ war in den Bann des Interesses an der Perestrojka geraten. [...] Doch erst hatte man keine Zeit dafür und dann war es zu spät. Die Perestrojka kam aus der Mode, und auf das ‚Parallele Kino‘ reagiert man in Rußland eher gereizt.“[54]
In einer generellen Umwertung kultureller Sicherheiten scheinen die Filme des Parallel'noe Kino weniger als künstlerisch eigenständige und wertvolle Aussagen gelesen worden, als vielmehr unter die breiteren Strömungen der Perestrojka subsumiert und wenig ernst genommen worden zu sein. Darüber hinaus ist aber im speziellen Fall von Juchananov auf die in der Einleitung bereits erwähnte Tendenz zur wiederholten Revision der eigenen Arbeiten hinzuweisen – Juchananovs Videofilme konnten durch mangelnde Verbreitung kaum große Resonanz finden, da sie vor allem auf archivierten Kassetten im Besitz des Autors existieren und bis zur Veröffentlichung einer DVD-Box mit einigen Filmen durch SineFantom im Jahr 2006 keine „finalen“ Versionen herausgegeben wurden.
Sowohl den Arbeiten der Brüder Alejnikov, als auch anderer Protagonisten des Parallel'noe Kino, wie etwa Evgenij Kondrat'ev oder Evgenij Jufit oder eben den Videoarbeiten Juchananovs wären eigene Studien zu widmen. Im vorliegenden Fall soll nur, wenn für die Argumentation sinnvoll, auf Aspekte von Juchananovs veröffentlichten Filmen eingegangen werden. Dieser kurze Exkurs in die Filmgeschichte weist außerdem darauf hin, dass sich Juchananov bereits in seiner GITIS-Zeit in sehr ausgeprägten künstlerischen Netzwerken befindet, die weit darüber hinausgehen, bloß die theatrale Linie von Ėfros oder Vasil'ev fortzuführen.[55] Obwohl beide Pädagogen zweifellos Lehrerfiguren für Juchananov sind und waren, sind die Einflüsse, die Juchananov aus seiner Arbeit an Videos, Filmen und weiteren performativen Kunstformen mitnahm, nicht weniger prägend, jedoch kaum mit der Konzeption eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses entsprechend zu erfassen – wer wäre denn der Lehrer des Moskauer andergraund der 1980er gewesen?
„Я как театральный режиссер, в начале ориентировался на профессиональную работу с подготовленными людьми, но в середине 80-х ситуация раскрылась таким образом, что само понятие профессионализма – во всяком случае, в том контексте жизнедеятельности и жизнетворчества, в котором я находился, девальвировалось. Поэтому я перестроил все свои ориентации и стал работать в пограничной зоне.“[56]
Im Kontext dieser Arbeiten in der pograničnaja zona muss wohl von einem anderen Verhältnis als dem vertikalen zwischen Lehrer und Schüler gesprochen werden. Im Artikel „О советском андеграунде, или несколько независимых материалов к истории создания спектакля «Наблюдатель»“ spricht Juchananov von den Besonderheiten der Leningrader Untergrundkultur der 1980er und pocht auf terminologische Genauigkeit zur Unterscheidung von der inoffiziellen Kultur der 60er und 70er Jahre – damals sei der Untergrund podpol'e gewesen, in den 1980ern jedoch podzemka. Der frühere podpol'e ist für ihn durch die schlichte Tatsache bestimmt, dass er unter der Erde stattfindet, also außerhalb der Sichtweite offizieller Kultur, jedoch wenig eigenständige Merkmale besitzt, abgesehen von der Selbstdefinition als Negation des Sichtbaren. Dem gegenüber steckt für Juchananov in der Bezeichnung podzemka der Hinweis auf ein gesamtes System der Gegenkultur, das genauso seine Regeln und Systematiken kennt:
„Это была целая система со своей инфраструктурой, рефлексией, легендами. [...] Там была отработана система, преодолевающая полицейский режим. Это был другой стиль жизни, умение таким образом допинговать свою жизнь, чтобы преодолевать негативные реакции в себе.“[57]
Juchananov beschreibt die Umgebung des Leningrader Untergrunds anhand von Organisationsprinzipien, die fundamental andere sind, als die des offiziellen Systems – deutlich mehr ihrer Zeit angemessen, sovremennyj:
"Информация стала сочится не из книг, а через тусовку, т.е. друг от друга, и вместе с ней, с её новыми качествоми и свойствами созревали люди."[58]
Die Strukturprinzipien dieser Gemeinschaften unterscheiden sie von der vertikal ausgerichteten professionellen Kultur iz knig, insofern sie durch ein Nebeneinander gekennzeichnet sind. Die Inszenierung von Aleksej Šipenkos Stück Наблюдатель,[59] die Juchananov in diesem Text beschreibt, kann als Beispiel hierfür dienen – einerseits tourte sie an der Seite von Anatolij Vasil'evs Серсо durch Europa, mit dem damaligen Aushängeschild spätsowjetischer Theaterkunst, andererseits vereint die Produktion selbst klassische literarische Qualitäten mit zeitgenössischer Rockmusik: So spielt etwa die Rockgruppe „Obermaneken“ eine zentrale Rolle in der Inszenierung.
Diese Verschiebungen, die Juchananov gegenüber den Strukturen klassischer Theaterarbeit vornimmt, lassen sich nun mit einer Reihe von Begriffen in Verbindung bringen, die auch die chronologische Besprechung seiner Arbeiten weiter fortführen sollen – individual'naja režissura, novaja processualnost' und performans.
Trotz seiner Abkehr von der Struktur der Ausbildung im GITIS-System arbeitete Juchananov in den späten 1980ern und frühen 1990ern im direkten Bereich der Pädagogik. Eine bemerkenswerte, wenn auch kurzlebige Institution dieser Zeit war die sogenannte Leningradskij Svobodnyj Universitet und die Svobodnaja Akademija. Anna Lawton beschreibt diese Unternehmungen wie folgt:
„In 1988, various parallel groups united to form the Leningrad Independent Kinoacademy, for the preparation of film directors. Then, another similar institution appeared, the Free Academy that consists of the Leningrad Free University and the Moscow Free Lyceum. These solemn names are used to disguise rather modest operations. But the intentions behind them are serious.”[60]
Zu den Pädagogen dieser Institutionen gehörten neben Juchananov einige frühe, späte und ständige Weggefährten, wie etwa die Brüder Alejnikov oder der bildende Künstler Jurij Charikov, der bis heute in vielen Projekten Juchananovs als Ausstatter tätig ist. Wie Anna Lawton beschreibt, wurden nur für kurze Zeit tatsächlich Kurse abgehalten.[61] Trotz ihrer temporären Natur sind diese Versuche, unabhängige ästhetische Bildung zu ermöglichen, in jedem Fall zusätzlicher Aufmerksamkeit wert. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Verbindungen zwischen den Moskauer und Leningrader Performance-Gruppen, wie etwa Juchananovs Gruppe Teatr Teatr und den damals bereits etablierten Künstlern der Moskauer Konnzeptualisten hinzuweisen, die ebenfalls noch ihrer detaillierten Erforschung harren.
Im Rahmen dieser Akademie entwickelt Juchananov seinen eigenen Kurs – die Masterskaja Individual'naja Režissura.[62] Die Abkürzung (MIR) ist gewollte vielsagend-provokativ, denn Juchananov sieht sein pädagogisches Anliegen direkt mit den maßgeblichen Trends der Zeiten der perestrojka verbunden. Die Möglichkeit des individuellen Ausdrucks jeder Privatperson beeinflusst auch die ästhetischen Gestaltungsmöglichkeiten.
„Что такое – индивидуальная режиссура? Это способность человека порождать индивидуальные лексики.“[63]
Juchananovs pädagogische Arbeit formuliert somit als Maxime die Ausbildung einer persönlichen, individuellen Lexik. Allerdings wird diese Arbeit nicht als rein avantgardistisches Projekt verstanden, das den Anforderungen einer postsowjetischen „offiziellen“, sichtbaren Ästhetik (und eines dementsprechenden Marktes) grundsätzlich entgegengesetzt wäre:
„Мастерская не противопоставляет себя «официальному искусству», а, напротив, стремиться к снятию оппозиции между традицией и авангардом.“[64]
Die Schnittstelle zwischen diesen beiden Positionen liegt für Juchananov nun genau in der individuellen Ausdruckskraft. Dazu ist das klassische Modell „Lehrer-Schüler“, wie bereits angedeutet, wenig hilfreich. Juchananov argumentiert für ein anderes Verhältnis und greift dazu auf Konzepte zurück, die sich wieder im Zusammenhang mit theoretischen Formulierungen Michail Bachtins besprechen lassen: In der (damals) gegenwärtigen Situation diagnostiziert Juchananov unter einer „jungen Generation“ (der er, knapp über 30 Jahre alt, Ende der 1980er auch selbst noch angehört), einen leksičeskij zachvat.[65] Die plötzliche Verfügbarkeit einer Mannigfaltigkeit an Texten, ein postmodernes Paradigma, führt zum smert' slova.[66] Durch die Erweiterung der kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten mit dem Ende der offiziellen Monokultur der Sowjetzeit scheinen, Juchananovs Ansicht nach, nun paradoxerweise die Möglichkeiten der individuellen, inoffiziellen Äußerungen deutlich eingeschränkt.
In seinem Aufsatz über die Redegenres versucht Bachtin das Zustandekommen einer jeden sprachlichen Äußerung zu erklären. Dabei trifft er eine Unterscheidung zwischen dem neutralem Wort, dem Wort des Anderen und dem eigenen Wort – wobei letzteres immer vom fremden Wort getränkt ist:
„Поэтому, можно сказать, что всякое слово существует для говорящего в трех аспектах: как нейтральное и никому не принадлежащее слово языка, как чужое слово других людей, полное отзвуков чужих высказываний, и, наконец, как мое слово, ибо, поскольку я имею с ним дело в определенной ситуации, с определенным речевым намерением, оно уже проникается моей экспрессией.“[67]
Die Aussageschwierigkeiten in der postsowjetischen Öffentlichkeit, die Juchananov beschreibt, können nun durch den Überhang eben des fremden Wortes als Stummheit, Arretierung des Wortes im Sinne Bachtins erklärt werden. Das plötzliche Überangebot das čužoe slovo, erklärt die Schwierigkeiten, seine eigene Stimme, moe slovo, zu finden. Juchananovs Gegenstrategie ist eine Aufwertung der individuellen Rede:
„Актуальность состоит в том, чтобы вернуться к слову,вернуться к речи, как я уже говорил. [...] В речи всегда есть движение к ещё несуществующему, речь порождает бытие [...].“[68]
Insofern lässt sich der theoretische Hintergrund von Juchananovs pädagogischen Konzeptionen der Perestrojka-Zeit als Versuch lesen, einerseits der vertikalen Struktur des „Lehrer-Schüler“-Verhältnisses und andererseits der (wirtschaftlichen und ästhetischen) Paralyse der damaligen Umstände zu entkommen. Die Betonung der Individualität und der freien Rede lässt sich weiter auf Juchananovs konkrete Theaterarbeit übertragen, die zentrale Elemente der Spontaneität enthält und selbige der Improvisation gegenüber stellt – während Improvisation das freie Spiel innerhalb einer klar (z.B. von einer Regieinstanz) vorgegebenen Struktur beschreibt (was eine Anspielung auf Anatolij Vasil'evs „vertikales Theater“ bedeutet), ist unter spontannoе jener Moment zu verstehen, indem sich das tatsächlich freie Spiel eines Schauspielers entfaltet, das keiner vertikalen Struktur mehr unterworfen ist.[69]
Es lässt sich schwer beurteilen inwieweit diese theoretischen Ausführungen von tatsächlichem pädagogischen „Erfolg“ gekrönt waren – die Svobodnaja Akademija existierte zu kurz und spielte eine zu marginale Rolle in der Logik der frühen postsowjetischen Landschaft als dass eine fundamental andere Generation von Künstlern aus diesen Laboratorien und Klassen hervorgehen hätte können. Fest steht allerdings, dass Juchananov in seiner eigenen Arbeit diese Prinzipien konsequent verfolgte und weiterführte – was in den 1990ern und 2000ern zu verschiedenen Projekten führte, die sich unter Juchananovs Begriff der novaja processualnost' näher beschreiben lassen.
Zu dem Сад-Projekt sind bereits einige Worte gefallen. Sein theoretischer Hintergrund würden den Rahmen dieses Überblicks sprengen, deshalb nur einige ausgewählte Bemerkungen. Basierend auf Čechovs Text Вишновый Сад entwickelte Juchananovs Truppe Theaterabende und Filme von unterschiedlicher Länge und unterschiedlicher Ausrichtungen. Zwischen 1990 und 2001 entstanden acht verschiedene regeneracii dieses Projekts. Der Journalist und Schriftsteller Dmitrij Bavil'skij formuliert folgende Eindrü name="_ftnref70" title="">[70]
Alle beschreibenden Adjektive, die Bavil'skij findet, deuten auf eine Inszenierung hin, die sich einer Ästhetik des offenen Entstehen verschrieben hat. Es geht Juchananov nicht darum, über den Weg jeder neuen regeneracija schlussendlich eine finale Version der Inszenierung zu finden, die dann letztgültig für sich und für Čechovs Text stünde. Vielmehr zeigt er immer neue Variationen eines performativen Textes. Für die Behandlung des Textes selbst benutzt Juchananov das Wort resakralisacija. Durch schauspielerische Improvisation, die Möglichkeiten von Bühne, Ausstattung und Bauten und durch die unvorhergesehenen Momente, die eine Aufführung bietet, wird versucht, einen lebenden Körper der Aufführung zu schaffen. Die Arbeit an Сад ist auch verbunden mit Juchananovs Projekt Дауны комментируют мир, im Rahmen dessen er mit Menschen mit Down-Syndrom arbeitete, woraus auch Filme entstanden: 1995 der Kurzfilm Неуправляемый ни для кого,[71] der mit klerikalen Texten aus den Evangelien arbeitet, sowie zwei Jahre später der Langfilm Да, дауны, или Поход за золотым птицами.[72] Auch diese Projekte wären einer tiefer gehenden Besprechung würdig, an dieser Stelle soll nur kurz auf die direkte Verbindung zum Сад-Projekt eingegangen werden. In einer der Regenerationen traten Schauspieler mit Down-Syndrom aktiv auf der Bühne auf; ihre Beiträge waren durch besondere Freiheit gekennzeichnet, indem sie auf verschiedenartige Weise mit den Geschehnissen auf der Bühne in Kontakt traten. Juchananov beschreibt:
„Сама та сигнальная система, которую они [дауны, Anm.] включают: внимание, поведение, реакция, та удивительная траектория их движения внутри сложного живого тела проекта, разворачивающегося (я это называю «новая процессуальность»), их комментарий внутри этой новой процессуальности удивителен и полноценен.“[73]
Die novaja processual'nost' ist also für Juchananov eine Möglichkeit, eine Aufführung lebendig zu halten und so durch deren Projektcharakter zu versuchen, etwas Neues zu schaffen, das über die klassische gerichtete Struktur Theatertext-Inszenierung-Aufführung hinausgeht. Die weitere Arbeit Juchananovs ist durch eben solche ėvoljucionnye proekty geprägt – neben dem Čechov-Text arbeitet er etwa auch an Goethes Faust und entwickelt gemeinsam mit Grigorij Zel'cer das ЛабораТОРИЯ, das sich mit dem Golem-Mythos und kabbalistischen Texten beschäftigt.
„Поскольку это проект «новой процессуальности», то у него как такового нет перспективы, а эволюционные проекты каждый имеет свою перспективу. В этомсмысле его перспектива – быть, продолжаться, так парадоксально он устроен.“[74]
Als weiterer Schlüsselbegriff, der den Projektcharakter weiter greifbar machen kann, lässt sich zuletzt noch der Begriff der perfomans erwähnen:
"Он [перформанс, Anm.] уходит с территории жизнетворческой. Он уже перестает беспокоиться за эту оппозицию: жизнь – творчество. Он ее снимает. Он как бы не знает о ней. Иэтодовольносущественныйэффект."[75]
Die bereits früher im Zusammenhang mit Bachtin ins Spiel gebrachte Opposition Kunst-Leben, die ein entscheidendes Verhältnis für das gesamte Oeuvre an Aussagen Juchananovs darstellen könnte, ist hier ein weiteres Mal formuliert. Wenn hier, zum Abschluss dieses Kapitel, die Frage nach einer Periodisierung des Schaffens von Juchananov gestellt werden soll, wird der Performance-Begriff als ausschlaggebend für die dritte Phase verstanden. Dem vorausgehend kann von einer Ausbildungsphase in den frühen 1980ern gesprochen werden, die fließend in eine zweite, experimentelle Phase mit theatralen Formen und Videokunst gegen Ende der 1980er übergeht. Juchananovs Arbeit in den darauf folgenden Jahrzehnten (1990 bis in die Gegenwart) spielt sich in verschiedenen Medien ab. Die Beschäftigung mit grundlegenden literarischen Texten (wie Čechovs Вишневый Сад und Goethes Faust) wechselt sich mit Video-Projekten und eigenen literarischen Projekten (wie etwa Театр и его дневники) ab. Der Raum, in dem diese Projekte stattfinden, lässt sich als performativer Raum charakterisieren:
"В этом смысле перформанс – своеобразное претворение сегодняшнего опыта в пространство вневременное. И там, на территории перформанса, и будут обнаружены новый миф и новые ритуалы. И только там они, может быть, и будут рождены. И это уже не возрожденческая деятельность и эпоха, это, скорее, эпоха зарождения."[76]
In diesem Sinne lassen sich die multimedialen Tätigkeiten Juchananovs unter dem Begriff der performans, wie er hier gedeutet wird, zusammenfassen. Die verschiedenen künstlerischen Disziplinen (Film, Video, Literatur, Theater, etc.) sind intensiv miteinander verbunden. So lässt sich ein übergreifender Begriff aus genau diesen Umständen entwickeln. Juchananov schreibt sich immer weiter ein in die Arbeit permanent fortschreitender Projekte. Diese verlaufen nicht parallel zu den Linien etablierter Institutionen und Genres sondern kreuzen sie unter bestimmten Voraussetzungen.
Die bei der Beschreibung dieser Kreuzungspunkte entwickelten Begriffe sollen nun in einer detaillierteren Analyse eines Romans von Juchananov getestet und erweitert werden. Seine Position zwischen den Institutionen und Ästhetiken und die prozesshafte, performative Qualität seiner Arbeiten sollen den Hintergrund für diese Analyse bilden, die auch als Überprüfung der These dient, dass sich eben diese (biographischen) Beobachtungen auch in der Besprechung eines konkreten Textes zeigen lassen.
III. Schreiben. Моментальные записки
„Я пишу роман, живу? - не знаю… Я пишу роман.“[77]
Im Zentrum des folgenden Kapitels soll nun Juchananovs Roman Моментальные записки сентиментального солдатика in einer Redaktion aus dem Jahre 2008[78] stehen. Der Text wird allerdings weniger anhand einer bereits klassischen Methodik der Literaturanalyse „gedeutet“; vielmehr wird die offene Form der Aufzeichnungen als Einladung verstanden, die „Inhalts- und Ausdrucksformen“ (Deleuze), die aus dem Romantext präpariert werden können, als bewusste oder unbewusste Fragen an das „Wesen“ der „Literatur“ oder des „Erzählens“ ernst zu nehmen. Keinesfalls soll auch eine Art Ideenspektrum des Autors aufgefächert, oder Juchananov als Denker in einer gewissen philosophischen Tradition, sei es nun die Bachtins oder der französischen Poststrukturalisten, dargestellt werden. Vielmehr wird versucht, anhand von Beispielen seines schriftstellerischen Textes zu Fragen nach den Bedingungen von „Literatur“ vorzudringen.
Die spezielle Form des vorliegenden Romans verdient besondere Aufmerksamkeit. Nach außen hin zeigen die über 650 Seiten die Form eines Tagebuchs. Jeweils einem Datum zwischen dem 25.05.1980 und dem 29.11.1981 zugeordnet, versammelt der Text die Aufzeichnungen des Soldaten Nikita Il'in und umfasst Ereignisse von kurz nach dem Einrücken bis zur Demobilisierung. Es sind dies einerseits tagebuchhafte Eindrücke aus dem militärischen Alltag, andererseits auch kurze Erzählpassagen, die nichts mit dieser Realität zu tun haben, Gedichte, Reflexionen, Abschriften von Passagen aus anderen Büchern. Einen großen Teil des Textes machen Dialoge zwischen Nikita und seinen Kollegen oder dieser Personen untereinander aus, die den Eindruck einer stenographischen Mitschrift erwecken. Bezugspersonen für Nikita sind der wechselnde Kreis an Kameraden und Vorgesetzten, die teilweise nur kurz erwähnt werden, teilweise im wiederholten Austausch stehen; darüber hinaus Freunde aus der vormilitärischen Zeit und vor allem Nikitas Familie, seine Frau und seine Tochter. Der Text ist in zwanzig Kapitel unterteilt, denen, in bester Brecht’scher Manier, jeweils ein kurzer zusammenfassender Text vorangestellt ist. Auf diese Kapitelüberschriften soll noch gesondert eingegangen werden. In jedem Fall formen sie die Leseerfahrung in Richtung eines gewissen „Inhalts“ der Aufzeichnungen zu einer Erzählung hin, die sich grob in drei Teile differenzieren lässt:
1. Die ersten Abschnitte beschreiben vor allem die schrittweise Gewöhnung an das Soldatenleben, setzen sich mit dem sozialen Gefüge und dem Arbeitsalltag der Rekruten auseinander. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Diskrepanzen zwischen Innen- und Außenwelt; Naturbeschreibungen und Reflexionen in stilisierter Sprache bilden einen harten Kontrast zum wörtlich wiedergegebenen Umgangston der Soldaten.
2. Obwohl diese Elemente weiter andauern, schiebt sich etwa ab Mitte der Aufzeichnungen eine selbstreflexive Ebene in den Vordergrund. Der Text scheint auf seinen eigenen Status als Dokument aufmerksam zu werden und es mehren sich die Einträge, die auf die Tatsache verweisen, dass Nikita seine Erlebnisse mitschreibt. Literaturexzerpte nehmen einen größeren Platz ein und werden als Vorbilder bemerkt und thematisiert.
3. Die Alltagsbeobachtungen werden schließlich fragmentarischer und treten in den Hintergrund, die Aufzeichnungen weisen größere Lücken auf. Die Einträge beschäftigen sich immer häufiger mit philosophischen Fragen und sind mit den Aufzeichnungen ebensolcher Gespräche mit Nikitas Mitmenschen verbunden.
Über die gesamten Aufzeichnungen verteilt finden sich immer wieder kurze Gedichte und Skizzen zu Erzählungen, Porträts und Anekdoten, die oft, aber nicht immer, mit dem Armeealltag verbunden sind. Poetische Reflexionen und Alltagsbeobachtungen stehen jedoch meist übergangslos nebeneinander. Um in den Genuss von durchgehenden Themen, wiederaufgenommenen Charakteren und tragenden Erzählbögen, kurz, den Annehmlichkeiten der etablierten narrativen Technik zu kommen, ist ein großes Maß an Eigeninitiative und Assoziationsleistung seitens der Leserinnen gefordert – die Entwicklung des Protagonisten, die Sympathien und Antipathien gegenüber anderen Charakteren etwa, müssen meist aus der direkten Wiedergabe von Gesprächen geschlossen werden, erklärende oder verbindende Passagen fehlen. Zusätzlich werden durch den fragmentarischen Charakter der Aufzeichnungen diese Bögen oft wieder fallen gelassen, längere Lücken müssen vom Leser überbrückt und Entwicklungen erraten werden. Dadurch wird die Lektüre der Aufzeichnungen äußerst anspruchsvoll und potentiell offen für verschiedene Deutungen. Ansätze dazu sollen in den folgenden Kapiteln formuliert werden.
Obwohl keine Verweise auf die reale Existenz von Boris Juchananov gemacht werden (sein Name kommt in den Aufzeichnungen nicht vor) basieren die Aufzeichnungen auf seinen Armeetagebüchern.[79] Dadurch ergibt sich ein spezielles Spannungsfeld, das in den kommenden Kapiteln erläutert wird. Diese Konstellation bedingt auch die Freiheit, Passagen aus dem Text als programmatisch in Hinsicht auf Juchananovs ästhetische Positionen zu verstehen und dementsprechend zu deuten. Die „Authentizität“ der Aufzeichnungen als Dokument legitimiert diesen Schritt. Weiters lässt sich daraus die Möglichkeit ableiten, Textpassagen in Hinblick auf philosophische Fragestellungen, deren Umfeld in der Einleitung angesprochen wurde, zu lesen, im Einklang mit dem dort abgesteckten Rahmen der Beschäftigung mit den Verflechtungen von Leben und Kunst. Insofern Juchananov als Person ein unbestreitbarer Faktor dieses Textes ist, kann auch die Kenntnis dieser Person als Mensch mit einem tiefgehenden Interesse an philosophischen und ästhetischen Grundfragen in die Besprechung des Textes einfließen.
Juchananovs Text nennt als Untertitel eine Form, als die er gesehen zu werden intendiert (roman), gibt aber bereits in eben diesem Titel weitere Rätsel auf: Моментальные записки сентиментального солдатика, или Роман о праведном юноше.[80] Die Qualifizierung der Aufzeichnungen als momental'nye lässt einen Augenblick stocken. In diesem Wort, das dem französisch-lateinischen Anteil der russischen Sprache entstammt, sind beide Bedeutungsebenen des lateinischen momentum gleichzeitig präsent – sowohl der (entscheidende) „Augenblick“, als auch die „Bewegung“. Die zu folgenden Aufzeichnungen sind demnach einem (oder mehreren) Augenblicken eines Lebens zuzuordnen, dadurch und darüber hinaus bilden sie eine Bewegung ab. Das zweite Substantiv des Titels wird ebenfalls durch ein Adjektiv französisch-lateinischen Ursprungs qualifiziert – sentimental'nyj. Der Gebrauch dieses Wortes lässt zunächst eine Verwurzelung im (historisch gesehen) Romantisch-empfindsamen vermuten. Diese Konnotation geht mit dem Substantiv des soldat eine produktive Spannung ein, welche ihrerseits durch das Diminutiv soldatik abgemildert wird. Diesen franko-latinischen Lexemen stehen im Untertitel des Textes jedoch zwei Kirchenslavismen gegenüber – der pravednyj junoša führt die romantisch-ironische Konnotation des sentimental'nyj soldatik weiter, allerdings vor einem anderen etymologischen Hintergrund.
Diese gedoppelte ironische Bewegung lässt bereits im Titel Schlüsse auf eine gewisse synthetische Natur des folgenden Textes zu. Einerseits ist eindeutig, dass sich Juchananov weder einer latinisch geprägt „europäischen“ literarischen Tradition zugehörig fühlt, noch einer spezifisch russisch-nationalistischen. Andererseits lassen die Konnotationen der Wörter sentimental'nyj und pravednyj an eine bestimmte (religiöse) Kultur der confessiones denken, die bereits darauf schließen lassen, dass hier die Thematik des Verhältnisses von „Kunst“ und „Leben“ mehr oder weniger ironisch verhandelt werden wird. Die großen Bereiche von „Gefühl“ (sentiment, franko-latinisch) und „Wissen“ (vedenie, kirchenslavisch) sind hier bereits in zwei verschiedenen sprachlichen Traditionen angesprochen. Es sind dies auch zwei Bereiche, denen größte Aufmerksamkeit gilt, wenn man sich im semantischen Feld der „Erziehung“ des Menschen befindet. Damit lässt sich der Bezugsrahmen des Textes zunächst im Bereich der Tradition des Entwicklungs- oder Erziehungsromans im weiteren Sinne verorten, worauf in Kapitel III.4 noch gesondert eingegangen werden soll. Dem ist allerdings, in Bezug auf das Wort zapiski, eine weitere Tradition hinzuzufügen – die der Aufzeichnungen, Tagebücher, confessiones, Autobiografien. Es ist dies ein möglicher Hintergrund, vor dem sich eine Lektüre des Textes abspielen kann.
Zu Beginn dieser Lektüre steht jedoch die Frage nach einer möglichen Klassifizierung derselben, die sich im vorliegenden Fall im Spannungsfeld zwischen den beiden Begriffen verorten lässt, die Juchananovs Titel selbst vorschlägt – zwischen roman und zapiski. Diese beiden Termini formulieren jedoch die Frage nach einer schaffenden Instanz jeweils anders: Einmal geht es um einen „Autor“, einmal um „jemanden, der aufzeichnet“. Damit verknüpft ist die Frage nach den Rollen der Leserinnen. Im Zuge der Beschäftigung mit einem Text, der sich als „Aufzeichnung“ betitelt, stellt sich die Frage, ob es im Hinblick auf die Lektüre von Autobiografien und Aufzeichnungen eine spezifische „Lust am Text“ gibt, die sich von einer klassischen auktorialen Situation unterschiede. Ein naheliegende Antwort scheint im „Miterleben“, „Einfühlen“ zu liegen, das wohl eine Grundlage für eine Art der Rezeption von Kunst ist, die sich auf personale Entitäten verlässt (also im gängigen Sinne narrativ vorgeht). In der Form „direkter“ Aufzeichnungen ist dieser Schluss besonders naheliegend – wenn ich die personalisierten Aufzeichnungen einer spezifischen Person lese, scheinbar ohne Eingreifen einer transzendenten Autoreninstanz, scheint der Zugang zu einem direkten Miterleben weitaus naheliegender. Jedoch muss, selbst wenn der Autor nicht sichtbar ist, seine Existenz angenommen und somit die Frage nach der grundsätzliche Trennung in Autor und handelnde Person gestellt werden.
An dieser Stelle kann eine weitere grundlegende Arbeit von Michail Bachtin eingeführt werden, deren Thematik deutliche Parallelen zu den eben versuchten Überlegungen aufweist. Bachtin unternimmt in seinem frühen fragmentarischen Text „Автор и герой в эстетической деятельности“ (1923/24)[81] eine Art Deutung der menschlichen Existenz im Verhältnis zu seiner Umwelt und anderen Menschen unter dem Zeichen einer ästhetischen Wahrnehmung der Welt, wofür ihm die Beziehung zwischen Autor und Held im literarischen Schaffen als Leitmetapher dient. Bachtin versucht, Ähnlichkeiten zwischen der Tätigkeit schaffender Künstler und einer täglichen und allgemeinen Lebensrealität zu formulieren. Die Konstitution eines Selbst ist für ihn in dieser Schrift nur möglich vor dem Hintergrund einer Wahrnehmung des Anderen, die mit ästhetischen Prinzipien verknüpft ist und nur mit deren Hilfe verständlich wird.
Bachtin nimmt eine Differenzierung vor zwischen dem Absoluten von Geographie und Geschichte auf der einen Seite und dem Relativen von persönlicher Zeit und persönlichem Raum auf der anderen Seite. Nur aus einem einzigartigen und persönlichen Wertzentrum heraus (eine Einstellung, die Bachtin als ėmocional'no-volevoj bezeichnet, vgl. Kap III.4.2) können diese grundsätzlichen physikalischen Größen verstanden werden, da ihnen per se keine transzendente Qualität eignet.[82] Damit jedoch eine Relation des Ich zu den Größen von Raum und Zeit und letztendlich zum Phänomen des Lebens hergestellt werden kann, benötigt man laut Bachtin immer den Anderen, was in diesem Fall bedeutet: einen anderen Menschen. Dies ist eine Leistung, die das Individuum nicht für sich selbst erbringen kann. Nur durch die Außenposition (wieder: vnenachodimost') dem Anderen gegenüber kann eine Relation zum eigenen Leben gefunden werden:
„Только в так воспринятой жизни, в категории другого мое тело может стать эстетически значимым, но не в контексте моей жизни для меня самого, не в контексте моего самосознания.“[83]
„Nur bei einem so aufgefassten Leben, nur in der Kategorie des Anderen kann mein Leib ästhetisch relevant werden, nicht aber im Kontext meines Lebens für mich selbst, nicht im Kontext meines Selbstbewusstseins.“[84]
Diese Aufwertung des Anderen (die in bestimmten Facetten die ethische Philosophie eines Emmanuel Levinas vorwegnimmt)[85] bedingt eine Neubewertung des Einfühlungsbegriffes. Insofern der Andere für die Selbstkonstitution unerlässlich ist, kann eine Identifikation mit ihm über das Mittel der Einfühlung nur sehr begrenzt stattfinden. So wie sich das innere Leben eines jeden Menschen nur durch die Existenz eines vollständig Anderen erklären lässt, bleibt das Innenleben dieses Anderen letztendlich unergründlich. Jede Aussage über darüber ist zwangsläufig unvollständig und damit fehlerhaft. In „Автор и герой“rekurriert Bachtin zwar auf den (im Original deutschen) Begriff „Einfühlung“,[86] übersetzt ihn allerdings mit dem russischen všivanie, „Einleben“. Dieses Wort kommt ursprünglich aus der Theatersprache und unterstreicht die Nähe, die Bachtin zwischen ethischer und ästhetischer Tätigkeit ausmacht. Ein aktives Interesse am Anderen ist zu vergleichen mit dem Interesse eines Autors an seinem Helden oder einer Schauspielerin an ihrem Charakter – ein Einleben, das niemals das ganze Leben kontrolliert. Diesen Begriff entwickelt Bachtin später weiter zum Begriff des „Mit-Schöpfens“ (sotvorčestvo), das in folgendem Abschnitt dem „Mit-Erleben“ (soperešivanie) gegenübergestellt wird:
„Сопереживание автору, поскольку он выразил себя в данном произведении, не есть сопереживание его внутренней жизни [...], но его активной творческой установке по отношению к изображенному предмету, то есть является уже сотворчеством.“[87]
„Das Miterleben mit dem Autor, soweit er sich selbst in einem bestimmten Werk zum Ausdruck gebracht hat, ist kein Miterleben seines inneren Lebens [...], sondern seiner aktiven schöpferischen Einstellung in Bezug auf den dargestellten Gegenstand, d.h., es ist bereits ein Mit-Schöpfen.“[88]
Das bedingungslose Miterleben entspricht für Bachtin einer Aufgabe der eigenen ästhetischen Position gegenüber einem Text. Für ein ästhetisches Erleben, das nicht der Identifikation mit dem Helden eines Romans entspricht, ist die Betrachterposition unerlässlich. Damit tritt ein Leser nicht nur in Austausch mit dem Helden eines Werkes sondern auch mit dessen Autor – eine Außenposition dem Helden gegenüber ist Voraussetzung für einen schöpferischen Bezug ihm gegenüber und damit für eine aktiv ästhetische Tätigkeit beim Lesen eines Romans (aber auch in anderen Sphären der Kunst).
Im Hinblick auf die Problematik der Zapiski lässt sich mit Bachtin nun festhalten, dass die Abwesenheit eines sichtbaren Autors dieser Aufzeichnungen noch keine grundsätzlich andere Rezeptionssituation bedingt. Der Held der Zapiski wird durch die Tatsache, dass er auch der Aufzeichner derselben ist, nicht weniger zum Held, da Bachtin von einer aktiven Teilnahme der Leserinnen ausgeht. Die Form der Aufzeichnungen bedingt die Annahme Nikitas als paradigmatischen „Anderen“.
Diese Lektüre des Textes erfolgt allerdings nicht im luftleeren Raum, sondern ist, wie jede Beschäftigung mit Texten, von Elementen des Paratexts[89] informiert, zu denen auch ein kurzes Vorwort des „Herausgebers“ gehört, das dem eigentlichen Romantext vorangestellt ist. Dadurch werden die eben beschriebenen Beziehungen noch verkompliziert, indem Juchananov einen weiteren Terminus einführt – den izdatel'. In seinen einleitenden Worten wird den potentiellen Lesern eine mögliche Position zu den Aufzeichnungen angeboten:
„Предлагаю читателю ознакомиться с этими записками, ничего определённого ему не обещая, но как бы приглашая проделать эксперимент над своим внутренним чувством интереса к другому человеку, во всём от меня самого отличному, но в чём-то, быть может, - как это не покажется мне же самому странным - подобному мне! Иногда свежие строки дневника самоубийцы притягивают неудержимо, как магнит притягивает железные опилки. Что это? Сила искусства? Сила жизни? Сила человеческого характера, выявленная в совершённом действии, ошеломляющем в своей простоте и безумстве?“[90]
Den Lesern wird also vorgeschlagen, den folgenden Text als „ėksperiment nad svoim vnutrennim čuvstvom interesa k drugomu čeloveku“ aufzufassen. Im Rahmen dessen wird ein „Ich“ eingeführt – wohl das des Herausgebers, lesbar als das von Juchananov selbst; im gegenwärtigen Kontext aber auch als das jedes möglichen Lesers zu verstehen. Die Ähnlichkeit zu Juchananovs eigener Vita wird thematisiert, der Leserin allerdings über das erwähnte Experiment hinaus keine Anleitung zur Lektüre in die Hand gegeben – etwa, ob der Text als Tagebuch, reine Fiktion oder Dokument einer vergangenen Gegenwart zu verstehen sei. Gerade diese Kategorisierungen scheinen Juchananov nicht zu interessieren. Die Lektüreerfahrung, die er anstrebt, soll aus einer anderen Richtung kommen – aus dem inneren Interesse einem Menschen gegenüber, „ganz anders als man selbst, und doch, auf irgendeine Art und Weise, ganz ähnlich.“ Juchananov vertäut somit seinen poetologischen Anspruch direkt mit einem geradezu anthropologischen. Das Interesse an Literatur, so scheint er zu suggerieren, entspricht dem Interesse an dem jeweiligen anderen Menschen und letztlich an uns selbst. Die Frage, ob man es nun mit der sila iskusstva oder doch der sila žizni zu tun hat, kann und soll hier nicht beantwortet werden. Am ehesten findet sich eine Antwort noch in abschließend formulierten Frage, wo der Begriff einer „abgeschlossenen Handlung“ auftaucht, der bereits an eine Bachtin’sche Formulierung erinnert.[91]
Als Gegenstück zu dieser Einleitung findet sich auch am Ende des Textes ein Abschnitt, für den der izdatel' verantwortlich zeichnet. Hier wird aus einer klassisch auktorialen Erzählperspektive, die sonst in den gesamten Aufzeichnungen so nicht vorkommt, Nikitas weiteres Schicksal nach der Demobilisierung beschrieben. Der Inhalt dieses kurzen Abschnitts verdient besondere Beachtung: Zunächst werden Nikitas Handlungen, als er in das Haus seiner Eltern zurückkehrt in detaillierter Großaufnahme beschrieben:
„Когда он вошел в квартиру, мать с отчимом еще спали. Там же, в коридоре, он медленно разделся догола и долго топтал ногами парадную форму. После чего всей охапкой, вместе с сапогами, упорно заталкивал ее в ковш мусоропровода, сжав зубы от дурного запаха, идущего из трубы.
За один раз не получилось. В начале он спустил одежду, потом сапоги.“[92]
Direkt darauf wird diese detaillierte Perspektive sofort wieder verlassen und das weitere Schicksal Nikitas in groben Zügen beschrieben:
„Через три месяца ранней весной Никита развелся с Настей. А осенью он заключил фиктивный брак с пышногрудой девушкой из Нью-Йорка по имени Джулия. И уехал в Америку. Там - следы его потерялись…“[93]
Die Sequenz ist vor allem als Parodie auf die Art von Erzählperspektive zu verstehen, welcher sich die Aufzeichnungen auf den vorhergehenden 680 Seiten ohnehin verweigert haben. Der übergangslose Perspektivwechsel wird nicht erklärt, die groben Striche, die Nikitas Auswanderung nach Amerika beschreiben, stehen in keinem Zusammenhang zum Fortlauf der Erzählung bisher. Die Sequenz wirkt vielmehr wie ein Versuch, ein Ende finden zu müssen, wobei (sowohl inhaltlich als auch erzähltechnisch) vulgäre Mittel angewendet werden – die jedoch eine Grundierung in einer tatsächlichen Problematik haben, nämlich die real existierenden Wünsche einer jungen Generation zu Beginn der 1980er Jahre die Sowjetunion zu verlassen.
Der starke Kontrast, in dem dieser Abschnitt zu den vorhergehenden Aufzeichnungen steht, macht auch deren speziellen Status klar, auf den im Folgenden eingegangen wird. Gleichzeitig wird die Rolle des Herausgebers thematisiert, der in diesen wenigen Zeilen Informationen preisgibt, die deutlich darüber hinausgehen, was ein bloßer Auffinder der Aufzeichnungen wissen könnte. Im Weiteren soll deshalb die Frage nach der Klassifikation des Textes weiter ausgeführt und mit dem Begriff des Tagebuchs verbunden werden.
1. Tod und Tagebuch. Die Form der Aufzeichnungen
Der Begriff des Tagebuchs spielt über die Zapiski hinaus eine entscheidende Rolle in der schriftstellerischen Tätigkeit Juchananovs. Unter dem Namen Тетр и Его Дневник (eine Anspielung auf Antonin Artauds Buch Le Théâtre et son double)[94] ist etwa ein größeres izdatel'skij proekt geplant, dessen Anspruch Juchananov folgendermaßen formuliert:
„Мы предпринимаем контекстуальную репрезентацию, то есть, хотим издать процессуальное произведение — живое, полноценное, трехмерное, казалось бы, не поддающееся линейному переводу в текст. Мы пытаемся не просто рассказать о произведении, а дать ему вторую жизнь средствами книги.“[95]
Dieses „zweite Leben“ wird dem künstlerischen Text nun unter anderem mit den Mitteln des Tagebuchs gespendet. Auch dieses Projekt wird im Sinne der in Kapitel II herausgearbeiteten Charakteristika als grundsätzlich prozessorientiert verstanden. In diesem Fall sind die Tagebücher der Kontext, in Bezug auf den die (theatralen) Werke verständlich werden, die aber in jedem Fall dem eigentlichen künstlerischen Text nachgestellt, zweitrangig sind. Das Tagebuch stellt das zusätzliche, das Surplus an „Leben“ zur Verfügung, das diesem theatralen Text fehlt. Worin liegt nun der Vorteil gegenüber andern Formen, wie etwa einem Interview mit dem Regisseur? Juchananov argumentiert, dass nur in der monologischen Form des Tagebuchs sich die Idee des „Theaters“ in seiner eigentlichen Form ausdrücken lässt.
In dem bereits erwähnten Sammelband Театр и его дневники,[96] der noch 2013 endgültig erscheinen soll, versammeln sich nun Texte zweier Autoren, Boris Juchananovs und der ukrainischen Schriftstellerin und Theaterwissenschaftlerin Natalija Ševčenko. Die Texte sind unterschiedlicher Herkunft und Ausrichtung: Teils theoretische Artikel und Interviews von und mit Juchananov, die u.a. bereits in anderen Ausgaben erschienen sind, teils Ševčenkos theatertheoretische Texte (zum Teil auf Ukrainisch) und Reflexionen zum Werk Juchananovs. Einen großen Anteil machen jedoch Auszüge aus den Tagebüchern beider Schriftsteller aus, die um das Jahr 2000 entstanden sind, und die damalige tägliche Arbeit sowie Reflexionen darüber beinhalten. Darunter auch eine Passage, in der Juchananov die Technik des Tagebuchschreibens selbst verhandelt:
„[Э]тот дневник содержит в себе особый коннотативный план. Он как бы демонстрирует или проявляет особого рода игру, которая длится возможно не только в моем сознании и, сущность которой заключается впризрачном желании пожить в мире или ощутить мир безсебя, после себя, в котором ты будешь пребывать в видетекста, «следа». Это та фигура темпорального парадокса, которая соблазняет художника на архив и дневник, именно не стремлением к жизни вечной, а стремлением ктому наслаждению, которое таится в магии времени и всоциальных разрывах образующихся в моменты перемен, открывает доступ к себе чутким авантюристам [...].“[97]
Der Reiz des Tagebuchschreibens wird aus Sicht eines idealisierten Künstlers beschrieben und mit dem Wunsch nach Leben über den Tod hinaus verbunden. Das Tagebuch scheint eine Zwischenform darzustellen, die nicht dem eigentlichen künstlerischen Werk zuzuordnen ist, gleichwohl aber künstlerischen Prinzipien folgt.
Es ist genau dieser Status des „Dazwischen“, des schwer zu verortenden Werdens, auf das auch Jacques Derrida anspielt, wenn er über das literarische Erbe Maurice Blanchots zu sprechen versucht. Derrida arbeitet zwar nicht mit dem Begriff des Tagebuchs, beschreibt aber das Werk Blanchots als „Zeugnis“ und „autobiographisch“, um die Position und die Konnotation eines gewissen „Ich“ in jener Literatur zu untersuchen, die sich vor- oder hintergründig mit dem tatsächlichen Leben ihres Autors beschäftigt:
„Seinem Wesen nach ist das Zeugnis stets autobiographisch: Es sagt in der ersten Person das teilbare und unteilbare Geheimnis dessen, was mir, mir allein, widerfahren ist; das absolute Geheimnis dessen, was ich zu erleben, zu sehen, zu hören, zu berühren, zu fühlen und zu erahnen imstande war.“[98]
Derridas Oxymoron des „teilbaren und unteilbaren Geheimnisses“ lässt sich im Austausch mit Juchananovs zitierter Formulierung eines „temporalen Paradoxes“ und dem damit verbundenen „geisterhaften Verlangen“ (prizračnoe želanie) lesen. Für Juchananov ist das Tagebuchschreiben der Versuch, mit einer Welt bez sebja in sinnlichen Kontakt zu treten. Der Text überlebt den Schreibenden, als Spur zwar, und deshalb präsent und leiblich, doch gleichzeitig als Gespenst eines absolut Abwesenden, als Geheimnis. Damit stellt sich die Frage, wie der Text zu bezeichnen wäre, der aus einem solchen Wunsch heraus entsteht. Für Derrida wie auch für Juchananov ist diese Art des Schreibens somit eine Art Gespräch mit einer geisterhaften Präsenz.[99]
Damit ist die Frage des Tagebuchs direkt mit der Frage nach dem Tod verbunden. Derrida entwickelt diesen Gedanken anhand einer Lektüre von Blanchots Die Schrift des Desasters weiter und weist mit den Worten Blanchots darauf hin, dass der Tod, im (autobiographischen) Schreiben mit einem Geschenk an den Gast, als welcher hier der Leser bezeichnet wird, anzusehen ist:
„Seine Autobiographie zu schreiben, sei es, um sich zu bekennen, sei es, um sich zu analysieren, sei es, um sich den Blicken aller, in Form eines Kunstwerkes, auszusetzen, das ist vielleicht ein Versuch zu überleben, aber durch einen andauernden Selbstmord – ein vollständiger Tod, sofern fragmentarisch.
Sich schreiben heißt aufhören zu sein, um sich Gast anzuvertrauen – dem Anderen, dem Leser –, der von nun an als Last und als Leben nur noch Deine Nichtexistenz haben wird.“[100]
Genau wie in Juchananovs Reflexion über das Tagebuch, wird hier „Sich schreiben“ mit dem Versuch zu überleben gleichgesetzt, allerdings nicht in einer naiven Sehnsucht nach dem ewigen Leben (Juchananov: imenno ne stremlenie k žisni večnoj). Dem Drang, „sich den Blicken aller“ auszusetzen zufolge ist das Tagebuch eine Grenzüberschreitung, aber dadurch immer schon Hybris. Denn sowohl Blanchot als auch Juchananov verweisen darauf, dass hier dem Leser ein Ich, ein Leben aufgebürdet wird, das sich nicht in den Weiten der Fiktion verliert. In Blanchots Worten: Der Leser hat nun als „Last“ die „Nichtexistenz“ des Schriftstellers zu tragen. Das Weiterleben außerhalb des klar markierten fiktiven Werks geht deshalb mit einer potentiellen Verschuldung gegenüber der Leserin einher.
Daraus lässt sich der erste Schluss ziehen, dass Aufzeichnungen mit autobiografischem Charakter immer eine Aussage in Bezug auf einen zukünftigen Tod sind. Im Falle der Zapiski ist allerdings eine bewusste Geste bemerkbar, diese autobiografischen Züge aus den Aufzeichnungen zu verbannen – Juchananov erschafft die Figur des Nikita Il'in, um ihr die Autorschaft der Aufzeichnungen zuzuweisen. Insofern kann in Hinblick auf Bachtins bereits erwähnte Gedanken in „Автор и герой“ die Frage aufgeworfen werden, wie sich das Verhältnis zur realen Person des Boris Juchananov beschreiben lässt.
Bachtin bestimmt in seinem Text Tod und Geburt ebenfalls als definierende Elemente für das Verhältnis zum Ich oder zum Anderen. Niemand kann seinen eigenen Tod oder seine eigene Geburt tatsächlich sinnlich begreifen. Diese Grenzen sind zeitliche Grenzen des Lebens, die Bachtin parallel zu den räumlichen Grenzen des Körpers beschreibt. Dieses Verhältnis bezieht Bachtin nun sowohl auf grundsätzliche anthropologische Umstände als auch auf den schöpferischen Prozess. Es ist gerade diese Außerhalbbefindlichkeit des Autors gegenüber seinen Charakteren, die ihn dazu befähigt, sie künstlerisch zu beschreiben, eine literarische Welt zu erschaffen, die von diesen Charakteren bevölkert ist.[101]
Im Falle von biografischen Aufzeichnungen müssen diese Überlegungen jedoch neu beleuchtet werden. Welche Position kann ein Autor zu einem Charakter einnehmen, wenn das Leben, das er beschreibt, dem Leben des Autors selbst entspricht? Eine mögliche Strategie besteht in der Distanzierung von dem Beschriebenen, die allerdings nicht so sehr in Bezug auf das „Faktische“, die Lebensdaten des Beschriebenen vorgenommen wird, als vielmehr eine Distanzierung durch die Verschleierungstaktiken der Literatur, also durch all das, was man Stilistik nennen könnte. Das Schreiben über ein Leben kann dadurch als ein klar „fremdes“ Leben markiert werden, indem etwa ein literarisches Idiom verwendet wird, das kein Äquivalent im „echten Leben“ besitzt. Ohne es explizit aussprechen zu müssen, weist die Organisation des verbalen Diskurses durch eine Autoreninstanz immer schon darauf hin, dass sie genau das ist: organisiert und damit dem „Leben“ entgegengesetzt. Dies betrifft keineswegs nur die äußere Form des Textes, also eben stilistische Entscheidungen, das Vokabular, die Syntax, die als „literarisch“ erkennbar sind. Schon ab dem ersten Moment, sobald eine ordnende auktoriale Instanz das (z.B. erinnerte) Material (z.B. gedanklich) ordnet und wiedergibt, hat eine Distanzierung stattgefunden. Der spätere Bachtin würde dieses Phänomen vielleicht die chronotopische Färbung oder Intonation des Materials nennen.
Ich möchte argumentieren, dass Juchananovs Reaktion auf das von Bachtin herausgearbeitete Dilemma (wie kann ich über mich selbst schreiben? kann ich der Held meiner eigenen Erzählung sein?) eine Manipulation in der Zeitlichkeit ist. Bachtin vertäut die Schwierigkeit mit dem Phänomen der Rückschau und des Gedächtnisses: „Память о другом и его жизни в корне отлична от созерцания и воспоминания своей собственной жизни“,[102] oder, etwas später: „Мое созерцание своей жизни – только атниципация воспоминания об этой жизни других“.[103] Es gibt demnach für Bachtin keine Selbstbetrachtung ohne das erinnernde Zeugnis der Anderen. Die Voraussetzung für die Rückschau sind demnach eine räumliche und zeitliche Trennung: Ich zeichne entweder etwas auf, das in der Vergangenheit liegt (die klassische Autobiografie) oder etwas, das räumlich eindeutig von mir getrennt stattfindet (jede Erzählung vom „Anderen“).
Juchananovs Technik andererseits, wendet sich bewusst gegen "Betrachtung und Erinnerung". Die Tatsache, dass Nikitas Aufzeichnungen eindeutig den Gestus des Rückblicks verweigern, ist in diesem Zusammenhang von großer Wichtigkeit. Dadurch, dass die Aufzeichnungen scheinbar im selben Moment vorgenommen werden, in dem auch „das Leben“ abläuft, wird ein Eindruck der ständigen Gleichzeitigkeit (auch wieder mit dem Begriff sovremennost' fassbar) erreicht. Der Versuch, diese Simultaneität von "erleben" und "aufzeichnen" (damit auch von "Leben" und "Kunst") zu erreichen, zielt somit auch darauf ab, die zeitliche Distanz zu eliminieren.
Juchananovs Text lässt sich demnach als ein Versuch beschreiben, die Distanz zwischen Leben und Kunst bzw. zwischen Erleben und Beschreiben aufzuheben, einerseits durch die eben erwähnte versuchte Gleichzeitigkeit, andererseits durch das Verschwinden der distanzierenden Sprache. In diesem Zusammenhang ist eine weitere Deutung des bereits angesprochenen Nachworts des Herausgebers möglich. Genauso wie die Figur des Nikita für die notwendige Distanzierung in diesen Aufzeichnungen erschaffen wurde, muss sie auch an deren Ende wieder abgeschafft werden. Nikita am Ende nach Amerika auswandern zu lassen, wo sich „seine Spuren verlieren“, ist Juchananovs Strategie, um sein Alter Ego im „absolut Anderen“ der USA aufgehen zu lassen. Die ironische Note, die bereits besprochen wurde, verstärkt den Eindruck, dass sich Juchananov dieses Vorganges bewusst ist.
Eine Aufzeichnung, die kurz vor Ende des Tagebuchtextes steht, bestätigt diese Annahme:
„И нет у меня больше слов, которыми бы я дорожил. И самое великое, на что я способен – продолжение моего беззлобного существования. Впрочем, беззлобиеотбезразличия.“[104]
Die Wortlosigkeit und Gleichgültigkeit nimmt den unvermeidlichen Tod der Kunstfigur Nikita vorweg, die das Ende des Textes ausmacht. Dass es keine andere Möglichkeit zu geben scheint, diesen Text zu beenden, deutet ein weiteres Mal auf die Verschränkung zwischen Tod und Tagebuch hin, die in den Zapiski artikuliert ist.
2. Material und Montage. Das Erbe der Bibliothek
Im Falle des vorliegenden Textes von „Montage“ zu sprechen, wirft spezielle Probleme auf. Einerseits scheint gerade Juchananovs Prämisse der direkten Aufzeichnung des Lebens einem ausgeklügelten Montageprinzip „im Nachhinein“ zu widersprechen. Eine auf einen gewissen Effekt abzielende nachgerade Bearbeitung des „Materials“ in bestimmten Kombinationen setzt eben den auktorialen Abstand voraus, den Juchananov, wie zu zeigen versucht wurde, in Frage stellt. Andererseits scheint es wiederum gerechtfertigt, von „Montage“ zu sprechen, da ein bedeutender Teil der Textelemente der Zapiski aus Dialogen besteht, die den Gestus einer direkten Übernahme „aus dem Leben“ zeigen.
In einem Interview mit Andrej Sil'vestrov, Filmwissenschaftler und glavnyj redaktor der SineFantom-Zeitschrift, spricht Juchananov unter anderem über die Entstehung des Romans:
„Уже потом, отправившись в армию, все те два года, которые я служил, я каждый день фиксировал армейскую действительностьпо этому же принципу и написал роман.“[105]
Durch Juchananovs Beschreibung seiner Arbeitsweise als fiksirovat' armejskuju dejstvitel'nost' stellt sich die Frage, in welcher Form dejstvitel'nost' für Juchananov als Vorlage gedient hat, bzw. unter welchen Parametern sie fixierbar wäre. Antworten auf diese Fragen wären jedoch rein spekulativ; insofern scheint es zutreffender, in Hinsicht auf die Konstruktionsprinzipien der Zapiski trotz allem eher von Auswahl und Montage lebensweltlicher Fragmente als vom „Fixieren der Realität“ zu sprechen.
In jedem Fall ist die direkte Transkription einer gewissen Realität von Faktoren beeinflusst, die nicht direkt mit der ästhetischen Gestaltung eines Textes zu tun haben – geht man von der Lebensrealität einer sowjetischen Kaserne der frühen 1980er Jahre aus, so ist anzunehmen, dass der Alltag der Soldaten von anderen Prinzipien geleitet war, als einem Rekruten das ungehinderte Mitschreiben der armeebezogenen Vorgänge zu ermöglichen. Genau diese Umstände werden in den Aufzeichnungen auch mehrmals thematisiert, etwa in diesem Austausch zwischen Nikita und seinem Vorgesetzten Šugurov:
„Наотмашь меня Шугуров сейчас, когда записывал это:
- А ну, дай сюда эту ерунду!
- Да не-е-ет, это я вам не дам!
- Давай сюда!
Рву листочки, и он уже сам, отступая:
- Спрячь, и чтоб больше я этого никогда не видел!
Мне кажется, они боятся, боятся этих моих записей...“[106]
Zunächst soll darauf hingewiesen werden, dass der zitierte Textabschnitt jene Einflüsse deutlich macht, die die Form der vorlegenden Aufzeichnungen maßgeblich beeinflussen. Insofern Juchananovs Anspruch darin liegt, eine direkte schöpferische Verbindung mit der armejskaja dejstvitel'nost' einzugehen, muss dieser Realität ein offensichtlich formgestaltender Einfluss zugestanden werden. Was aufgezeichnet wird und wie es aufgezeichnet wird, ist somit nicht allein Entscheidung einer direkten formgebenden Instanz (Künstler, Autor), sondern wird bewusst den unbeeinflussbaren äußeren Faktoren überlassen.[107]
Ob nun jedoch einer unkontrollierbaren äußeren Realität oder einer künstlerischen Eingebung eine größere Rolle zugeschrieben wird – Juchananovs Vorgehen operiert in jedem Fall mit Fragmenten einer auf einer gewissen Weise wahrgenommenen Lebenswelt. Als solches haben diese Fragmente eine zitathafte Qualität per se. Sie sind aus einem bestimmten „realen“ Kontext in einen textuellen Zusammenhang transferiert. Damit stellt sich die Frage nach dem Status dieser Aufzeichnungen als „Literatur“.
Ein vergleichbares Beispiel, das auch in den Zapiski als eine Lektüre des Hauptcharakters Erwähnung findet, ist Thomas Manns Die Entstehung des Doktor Faustus. Mann montiert darin Erinnerungen und Tagebuchzitate der Zeit, als er an Doktor Faustus arbeitete, zu einem neuen Roman eines Romanes (so der Untertitel). Neben den Daten und Lebensumständen der Entstehung der Lebensbeschreibung Adrian Leverkühns liefert Mann auch poetologische Reflexionen über den Roman, den er geschrieben hat, sowie über den, den er gerade schreibt. Insofern Doktor Faustus ganz grundsätzlich mit Zitaten arbeitet, ja die Grundprämisse des Romans als versteckte Nietzsche-Biografie bezeichnet werden könnte, spielt die Montage von Zitaten eine wesentliche Rolle in Manns Reflexionen. Er beschreibt den Umgang mit „Wirklichem“ und die ihn selbst „dauernd bestürzende Rücksichtslosigkeit im Aufmontieren von faktischen, historischen, persönlichen, ja literarischen Gegebenheiten“[108], die für ihn die Arbeit am Roman ausmacht:
„Diese mich fortwährend befremdende, ja bedenklich anmutende Montage-Technik gehört geradezu zur Konzeption, zur 'Idee' des Buches, sie hat zu tun mit einer seltsamen und lizenziösen seelischen Lockerung, aus der es hervorgegangen, seiner übertragenen und auch wieder baren Direktheit, seinem Charakter als Geheimwerk und Lebensbeichte, der die Vorstellung eines öffentlichen Daseins überhaupt von mir fernhielt, solange ich daran schrieb.“[109]
Diese „bare Direktheit“ wird allerdings erst durch den Roman eines Romanes deutlich. Doktor Faustus, für sich selbst genommen, bleibt ein durchgängig konventionelles und geschlossenes Stück Literatur, dessen grundlegende Montage-Techniken zwar immer wieder durchscheinen (sofern den Lesern die Vorlagen bekannt sind), derer es jedoch für eine primäre Leseerfahrung nicht bedarf.
Dem gegenüber können die Zapiski als Versuch beschrieben werden, beide Deutungen der Zitathaftigkeit, versteckte und offene, die des Faustus und der Entstehung, zu vereinen. Insofern lässt sich Juchananovs Text auch als Entstehungsgeschichte eines Romans lesen, der nie geschrieben wurde. In ihm finden sich Entwürfe zu narrativen Fragmenten, Drehbuchskizzen, Gedichte, in denen verschiedene Themen verarbeitet werden. Im Text selbst wird diese Vorläufigkeit auch mehrmals thematisiert:
„Всё время хочу прекратить эти записи. К чему мои ничем не связанные наблюдения над собой, случайные зарисовки пейзажа. Обрывки диалогов... Но всё ещё надеюсь монтажом сложить эти отрывки в целое.“[110]
Dieses celoe liegt jedoch nicht vor – oder es verbirgt sich hinter ebendieser Montage der Aufzeichnungen, die nun zu lesen ist. In diesem kurzen Abschnitt ist somit auch eine Frage nach der Werthaftigkeit solcher kurze Zitate, Monaden, slučajnye zarisovki pejzaža versteckt, sowie die Problematisierung ihres Status als „Literatur“. Manns Antwort darauf scheint hingegen eindeutig. Solche Fragmente haben in einem literarischen Werk nur Platz in Hinsicht auf das künstlerische Ganze:
"Ein Gedanke als solcher wird nie viel Eigen- und Besitzwert haben in den Augen des Künstlers. Worauf es ihm ankommt, ist seine Funktionsfähigkeit im geistigen Getriebe des Werkes."[111]
Genau dieser Gedanke scheint den Erzähler der Zapiski zu beschäftigen.[112] Womit Juchananov die Leser konfrontiert, kann nun als Zwischenstation, wiederum als Schreiben im Werden begriffen werden. Die nabljudenija, die kurzen Beobachtungen, die Lebensfragmente aus der Anschauung, die die Zapiski bilden, werden einerseits nicht als bedeutungslos verworfen (schließlich existiert der Roman, wenn auch bislang unveröffentlicht), allerdings auch nicht zu einem eindeutig lesbaren Ganzen im Sinne Thomas Manns zusammengefügt. Juchananovs Text operiert somit auf einer seltsamen Schwebeposition zwischen Sammlung, Archiv und gerichteter Zusammenstellung; die chronologische Ordnung der Aufzeichnung hinsichtlich ihrer Entstehung gibt einen Lesefluss vor, gleichzeitig existieren thematische Verbindungen, die einerseits über die bloße Chronologie und andererseits über die Zufälligkeit der Zusammenstellung hinausdeuten.
In Bezug auf die Frage, ob dem Zitat nicht doch eine gewisse Eigendynamik oder ein Eigenwert eignet, bezieht Mann ebenfalls klar Stellung:
"Das Zitat als solches hat etwas spezifisch Musikalisches, ungeachtet des Mechanischen, das ihm eignet, außerdem aber ist es Wirklichkeit, die sich in Fiktion verwandelt, Fiktion, die das Wirkliche absorbiert, eine eigentümlich träumerische und reizvolle Vermischung der Sphären."[113]
Gerade auf diese „Vermischung der Sphären“ scheint Juchananovs Projekt abzuzielen. Es bringt die Musikalität seiner kurzen Beobachtungen auf zweifache Weise zur Geltung: Einerseits in ihrer Rhythmisierung für sich selbst, die durch bloßes Herauspräparieren, Mitschreiben, Fixieren sichtbar wird (etwa wenn die Flüche eines Vorgesetzten in Juchananovs Aufzeichnung ihre eigene Rhythmik und Musikalität erhalten), andererseits durch die Montagezusammenhänge, die kontrastiv oder verstärkend wirken.
In der Konstruktion der Zapiski nehmen diese kontrastiven Zusammenhänge eine wichtige Rolle ein. So dominieren vor allem in den ersten Kapiteln des Textes die Gegensätze zwischen (lyrischer) Naturbeobachtung und dem brutalen Armeealltag. Stellvertretend sei auf eine längere Passage aus den Anfangsparagraphen des Textes hingewiesen:
„Мне нравится смотреть на свои руки, загрубевшие в работе. Сижу сейчас на только что подметенном мраморе, перекуриваю и изучаю линии левой ладони, «проработанные» пылью. Будто бы резче обозначилась линия жизни. Какое обилие морщинок. Ха! у меня должна родиться девочка! Девонька!..
Заканчиваем работу, сворачиваем шланги, докидываем последние куски пыли в грузовики. И с завистью (одним глазком) секу за пижонами в джинсиках, периодически возникающими у бочки с квасом.
Сержант:
- Эй ты! Вон там лопата стоит. Берешь лопату и вот этот весь мусор перекидываешь сюда. Быстрее сделаем и все!
Сделаем... Мыпахали…“[114]
Der Gegensatz zwischen innen und außen, zwischen Introspektion (Beobachten der eigenen Hand) und Eingriff des realen Umfelds (der Befehl des Sergeanten) erzeugt eine spezifische Rhythmik. Insofern auf einer rein narrativen Ebene auch die Unterschiede zwischen bürgerlichem (auch ästhetisch-kunstbetontem) und armeebezogenen Leben thematisiert werden, illustriert die zitierte Passage eben diese Kontraste. Dabei wird auch auf sprachliche Umstände eingegangen: Oft stehen lyrisch-beschreibende Passagen in direkter Nähe zur soldatischen Umgangssprache, die von Flüchen und mat dominiert ist („В армии матом не ругаются - общаются, г-о-в-о-р-я-т. Язык это, наш язык!“).[115] Es scheint dementsprechend geradezu ein Anliegen des Erzählers zu sein, eben das Lyrische, Schriftstellerische, Künstlerische im Alltäglich-Profanen zu finden.
„Крыша из зелено-коричнево-синих листов пластмассы сейчас подсвеченных солнцем. Черт возьми! Я никак не ожидал, что на кирпичном заводике может быть так оранжерейно.“[116]
Dieses Unterfangen, das in der Romandiegese beschrieben werden kann, spiegelt sich ebenfalls auf einer allgemeineren poetologischen Ebene. Genauso wie Nikita die beiden Sphären in seiner inneren Entwicklung zum Künstler hin vereinen muss, stehen sprachliche Fragmente der verschiedenen Lebenswelten gleichberechtigt den Lesern gegenüber. Es steht offen, ob man die längeren Passagen, die aus der direkten Soldatensprache übernommen sind, die häufigen Flüche, die nenormativnyj jazyk, als Milieuzeichnung begreift, als „Wirklichkeitseffekt“ im Barthes’schen Sinne,[117] oder ob man ihnen einen poetisch-gestaltenden Status zugesteht, der auf der selben Ebene operiert, wie die Reflexionen des Erzählers. Die Synthese dieser Ebenen wird innerdiegetisch teilweise vom Erzähler übernommen, teilweise obliegt sie aber den Lesern, die auf verschiedene Weise mit den angebotenen Zitaten umgehen können.
Die Frage nach Zitaten ist jedoch immer auch mit der Frage nach gewissen Eigenheiten eines literarischen Stils verbunden. Die Form der direkten Aufzeichnungen scheint manche stilistische Entscheidungen bereits vorwegzunehmen (so wie die direkte Aufzeichnung, die der Text verspricht, Kürze und Genauigkeit vorweg zu nehmen scheint). Doch erzeugt die Lektüre verschiedener Autoren im Text, die teilweise wörtlich wiedergeben werden, eine Nähe zu diesen Vorbildern. Einen gewichtigen Teil der Romanerzählung nehmen Nikitas Lektüren ein (u.a. Tolstoj, Dickens, Rolland, Stendhal, Faulkner, aber auch Šklovskij, Ėjchenbaum, Gercen,...), aus denen auch zitiert wird. Im konkreten Fall auch aus Manns Entstehung des Doktor Faustus und zwar folgender, bekannter, Satz: "Ich kenne im Stilistischen eigentlich nur noch die Parodie."[118] Interessant nun jedoch, dass eben dieser Satz bei Mann, in der Entstehung, selbst zwischen Anführungszeichen gesetzt ist – es handelt sich um ein Selbstzitat Manns, das er seinen Tagebüchern der damaligen Zeit entnimmt. Das „Original“, aus dem Nikita bei Juchananov zitiert ist bei Mann bereits ein Zitat.
Gilles Deleuze und Claire Parnet machen an anderer Stelle auf den Grundcharakter der Literatur als „Verkettung“ aufmerksam:
„Die kleinste reale Einheit ist nicht das Wort, nicht die Idee oder der Begriff und nicht der Signifikant – es ist die Verkettung. Sie produziert die Aussagen. [...]
Der Schriftsteller erfindet, aufbauend auf Verkettungen, die ihn erfunden haben, andere Verkettungen, er läßt eine Vielheit in eine andere übergehen.“[119]
In diesem Sinne ist auch die vorliegende Arbeit als weiteres Glied dieser Verkettung zu betrachten: Sie ist Schreiben über Juchananov, der über sich/Nikita schreibt, der Thomas Mann liest, der über den Montagecharakter von Doktor Faustus schreibt, detailliert aufspaltend, auf welche Prätexte sich dieser Roman bezieht. Darin liegt eine Aussage über den sich ständig weiterschreibenden Körper der Literatur verborgen. Aus der Annahme eines „Körpers“ der Literatur folgt die Frage nach ihrer „Materialität“, wenn es denn eine solche gibt. In Bezug auf Manns Arbeitsweise wäre die Antwort klar: Die Bücher, die er liest, bestimmen, was und wie er schreibt. Das Verhältnis zwischen Kunst und Leben entsteht für Mann durch das Bindeglied der Bibliothek.
Die Bibliothek, real und imaginär, spielt auch eine wichtige Rolle in den Zapiski. Zunächst ist die einzige erwähnenswerte weibliche Figur, abgesehen von der Frau des Erzählers, eine Bibliothekarin, deren Rede als Monolog von den restlichen Aufzeichnungen abgehoben präsentiert wird:
„Малиновое пальто, зеленые сапоги, короткая стрижка с чёлкой, крашеная. Встряхивает головой... энергичная и вездесущая мадам...
- Только чувствами! И больше я никак не воспринимаю литературу. Вот как моя приятельница - любит Диккенса. Как ей скучно - она берёт Диккенса. А я Диккенса терпеть не могу. Женщину не понять... А потом, вот меня, например, мой муж... Муж мне говорит, что «ты не права всё равно», что «слишком всё чувствами воспринимаешь». Вот почему так женщина устроена? И твоя жена также, наверно... Первоевпечатление - унасвсёчувство!“[120]
Über diese innerdiegetische reale Referenz hinaus ist auch eine virtuelle Bibliothek für die Aufzeichnungen maßgeblich. Nikita führt Buch darüber, welche Bücher er liest und exzerpiert regelmäßig kurze Zitate und Passagen in die Aufzeichnungen. Der Leser der Zapiski wird somit auch zum Leser dieser Literatur – aus zweiter Hand. Der Akt des Heraus- und Abschreibens (perepisyvat', vypisyvat') wird im Laufe der Aufzeichnungen selbst wiederholt thematisiert und zum performativen Akt (vgl. auch Kap. III.3.3 der vorliegenden Arbeit):
„- Ты что пишешь?
- Да вот у Толстого переписываю, учусь... Вот смотри, Левин на такой же, как я тебе, вопрос «не скучно ли в деревне?», отвечает: «Не скучно, если есть занятия, да и с самим собой не скучно».
- Ха-ха-ха-ха! Ты у него переписываешь, а потом за свое выдаешь. Ха-ха-ха! людей наебываешь... Я хочу как люди жить... Жениться не хочу. Купить машину, чтоб дождь, снег мне не мешал. Каждый день одну... А лет в тридцать пять - в тридцать шесть можно уже жениться, как ты думаешь?
- Можноитак...“[121]
In der zitierten Sequenz wird genau diese Verflechtung von Bibliothek, von literarischem Erbe und der gegenwärtigen Realität, in literarischer Form greifbar. Der Akt des Lernens (učus') wird mit dem Akt des Herausschreibens (perepisyvaju) gleichgesetzt. Gleichzeitig wird Parallelität zwischen Tolstojs Romanwelt aus Anna Karenina und der Realität von Nikitas Aufzeichnungen hergestellt – Levins Antwort aus dem Roman passt auf die Frage aus Nikitas Realität, die nun selbst in Romanform vorliegt. Die Reaktion des Kameraden weist einerseits auf den wirtschaftlichen Charakter der Literatur hin und damit auf den Wert, den die Kopie, das Zitat in diesem Zusammenhang hat (potom za svoe vydaeš'), andererseits bestätigt sie die Relevanz, die die von Nikita gelesene, zitierte, herausgeschriebene und somit wiedergegeben Literatur für seine Lebensrealität besitzt – er knüpft sofort eine Aussage über persönliche Träume und Pläne an, die von der Reflexion über die Literatur ausgelöst wurden, ob sie nun vor dem Hintergrund von Anna Karenina zu lesen sind, oder nicht.
Die Möglichkeit zu diesen Reaktionen und Reflexionen werden aber erst durch die virtuelle Bibliothek Nikitas/Juchananovs möglich gemacht. Die Materialität der Bücher, die Nikita liest, und die teilweise den Lesern der Zapiski weitergeben wird, verbindet sich mit der Realität eben dieser Aufzeichnungen.
Neben der Frage nach literarischen Bezugspunkten finden sich jedoch auch Referenzen auf geschichtliche Ereignisse. So beginnt ein Kapitel mit der folgenden Ankündigung:
„Глава одиннадцатая, в которой Никита ставит перед собой писательские задачи, переживает смерть Кюхельбекера Вильгельма Карловича и Высоцкого Владимира Семеновича“.[122]
Eine Seite später enthält ein Eintrag den folgenden Satz:
„Умер КЮХЕЛЬБЕКЕР? КЮХЛЯ ВИЛЬГЕЛЬМ КАРЛОВИЧ! Хотелось плакать.
Страшные его последние годы.
Неужели эта мерзость и мне уготована?!“[123]
Es darf allerdings als bekannt vorausgesetzt werden, dass der Tod des Dekabristen-Schriftstellers und Puškin-Gefährten Vil'gel'm Karlovič Kjuchel'beker nicht in der zeitlichen Realität der frühen 1980er stattfand (sondern vielmehr im August 1846). Der Tod Vladimir Vysockijs fällt jedoch sehr wohl in die Epoche der Aufzeichnungen: Er stirbt am 25. Juli 1980, sein Begräbnis wird zu einem prägenden sozialen Ereignis der späten Brežnev-Zeit. Genau dieses Begräbnis wird einige Seiten später in den Zapiski beschrieben:
„- Таганка вообще была закрыта полностью. Все московские писатели, поэты - они все ему прощальное слово, типа: «Володя, прости, там, не поняли тебя...» Была жуткая траурная процессия, по всей Москве - машины, машины, там, конечно, помяли все могилы, конная милиция. Собрали артистические товарищи деньги на памятник, кто-то пробил, «Мерседес»-то у него от Молотова. И Марина Влади отказалась. Она сама заказала памятник - на свои. Естественно, поминки грандиознейшние в Таганке, торжественные собрания с выступлениями, замминистры присутствовали...
- А как Любимов?
- Он как-то мало там выступал. Где-то до полутора миллионов желающих поприсутствовать. Наолимпиаду, наэтуплюнули...“[124]
Beide Ereignisse werden in der Kapitelüberschrift zusammengebracht und sind in den Aufzeichnungen Nikitas gleichwertig vertreten. Dadurch werden einerseits Parallelen der beiden Künstler herausgestrichen – beide sind Revolutionäre, einmal gegen das zaristische Russland, das andere Mal gegen die ästhetische Monokultur der späten Brežnev-Zeit. Die Aufzeichnungen bringen diese beiden verschiedenen und doch ähnlichen Künstler zusammen; allerdings werden sie aus verschiedenen Quellen aufgerufen. Während Vysockij tatsächlich zu der Zeit der Aufzeichnungen stirbt (das Begräbnis fand allerdings am 28. Juli 1980 statt; die Schilderung in den Zapiski findet sich unter dem Datum des 24. Januar 1981), kommt die emotionale Reaktion auf den Tod Kjuchel'bekers offensichtlich nicht aus einer sozialen Realität wie die von Vysockijs Tod, sondern aus einer spezifischen literarischen. In direkter Nähe zu diesen Aufzeichnungen findet sich ein kurzes Exzerpt aus Jurij Tynjanovs historischem Roman Kjuchlja:[125]
„«Брат, - сказал он Пушкину с радостью, - брат, я стараюсь. Кругом стояли соседи, Пущин, Дросида Ивановна с детьми. Вильгельм выпрямился, его лицо безобразно помертвело, голова откинулась. Он лежал прямой, со вздернутой седой бородой, острым носом, поднятым кверху, и закатившимися глазами».“[126]
Die Erregung über Kjuchel'bekers Tod, die aus der oben zitierten Tagebuchnotiz zu lesen ist (man beachte die Großschreibung), ist also eine, die Nikitas Lektüre von Tynjanovs Roman zuzuordnen ist, aus dem eine Passage in den Aufzeichnungen eine Seite weiter zitiert wird.
In der Form der Aufzeichnungen tritt nun eine weitere Deutung der Gleichzeitigkeit, Synchronizität (sovremennost') zu Tage. Durch den scheinbar unmittelbaren Charakter der Aufzeichnungen und den damit verbundenen Glaubwürdigkeitsüberschuss (der paradoxerweise mit einer Reduktion der Sichtbarkeit des Autors, damit einer größeren Sichtbarkeit des Aufzeichnenden selbst einhergeht) kann eine direkte Verbindung zwischen den beiden Figuren Vysockij und Kjuchel'beker hergestellt werden, die allerdings keine argumentative Verbindung ist. Die soziale Realität des Vysockij-Begräbnisses und die literarische Realität des Tynjanov-Buches werden nebeneinander montiert, auf eine Art und Weise, die keinen kausalen Zusammenhang argumentiert, sondern durch die formale Kraft der durchgehenden, nicht durch ästhetische Prinzipien begründeten, sondern vielmehr aus ihrer eigenen Materialität heraus bekräftigten Evidenz der Aufzeichnungen.
Neben der „Verkettung“ führen Deleuze und Parnet einen weiteren Begriff ein, um die Gemachtheit literarischer Werke in ihren Zusammenhängen zu erläutern. Die Homogenität gewisser Äußerungen, die ein ästhetisches Ganzes bilden, basiert auf einem Funktionszusammenhang der einzelnen Werkelemente untereinander, der gegenseitigen „Sympathie“:
„Verkettung ist der gemeinsame Funktionszusammenhang, ist ‚Sympathie‘, Symbiose. Sympathie nun ist kein vages Gefühl der Wertschätzung und Hochachtung, der geistigen Teilnahme, sondern im Gegenteil die Anstrengung oder Penetration von Körpern: Haß oder Liebe; denn auch der Haß ist ein Gemisch, ein Körper, gut nur dann, wenn er sich mit dem vermischt, was er haßt. Die Sympathie, das sind die einander liebenden oder hassenden Körper, und in diesen Körpern sind stets Populationen am Werk. Es bleiben Körper auch dann, wenn sie erkennbar biologischer, psychischer, sozialer oder verbaler Natur sind.“[127]
Daraus lässt sich folgende Formulierung ableiten: Zwischen dem Tod von Kjuchel'beker und dem von Vysockij herrscht eine bestimmte Sympathie. Diese Form der historischen Montage zielt auf eine Art von Effekt oder Wissen ab, das nicht argumentativ, aber auch nicht historisch ist. Die Montagetätigkeit der Zapiski läuft auf verschiedenen Ebenen ab und bringt literarische und historische Körperlichkeiten in gegenseitigen, „sympathischen“ Zusammenhang.
3. Video-Poetik
Eines der jüngsten Projekte Juchananovs, das seit 2002 in Arbeit ist, trägt den Namen ЛабораТОРИЯ. Es ist ein komplexes Spiel mit sakralen Texten aus der jüdisch-mystischen Tradition, das sich im Verlauf des Projekts mit Passagen aus dem Stück Der Golem des jiddischsprachigen Schriftstellers H. Leivick über die Prager Golem-Legende vermischte. In verschiedenen Phasen ging die Diskussion dieser Texte von freier Improvisation zu szenischen Experimenten über. Eine zehnstündige Aufführung fand im März 2007 in Wien im Rahmen des TIKUN OLAM-Festivals des internationalen jüdischen Theaters statt.[128] Diese Aufführung lebte jedoch auf einzigartige Weise weiter: Nach der Rückkehr nach Moskau begann die Truppe ein Transkript dieses Abends, von nun an Venskaja repeticija genannt, in der Škola dramatičeskogo iskusstva wieder zu spielen. In den Stücktext wurden die in Wien notwendige englische Übersetzung, sowie Kommentare der Zuschauer und Schauspieler eingeflochten. Mit jeder Regeneration wurden die Rollen neu verteilt und weitere Wortmeldungen von Zuschauern, Improvisationen der Schauspieler etc. in den ständig wachsenden Text aufgenommen, der sich nun wie von selbst weiter entwickelte. In den Worten des Projektleiters Grigorij Zel'cer wurde damit ein fundamentales Ziel erreicht: „pesnja pišet sebja“, das Stück schreibt sich selbst (weiter).[129]
Diese Faszination an der Möglichkeit eines Textes „sich selbst weiter zu schreiben“ und dieses Weiterschreiben über (mediale) Grenzen hinauszutreiben, ist ein gemeinsames Charakteristikum der Arbeiten Juchananovs. Das Сад-Projekt beispielsweise versucht mit Improvisation, Video, speziellen Darstellungsformen, den Čechov-Mythos gleichzeitig in Frage zu stellen und zu seinem Text beizutragen. Damit wird auch die Unterscheidung zwischen „Material“ (etwa das Stück) und „Darstellung“ (die theatrale Inszenierung) kritisch hinterfragt. Juchananovs Interesse gilt somit dem kontinuierlichen Fortschreiben von mythischen oder ideellen Elementen über Mediengrenzen hinweg.
Zu Beginn dieser Arbeit wurde der Anspruch formuliert, zu einer Poetik des Schreibens im Werden beizutragen. Dieses Werden ist im Falle von Juchananov nicht von technischen Voraussetzungen zu trennen. Was in den späten 1970ern und frühen 1980ern der bloknotik als Aufschreibemedium war, wird im Lauf der Jahre durch ein anderes Gerät abgelöst – von der Videokamera, die ständiges und leicht zu bedienendes filmisches Aufzeichnen Mitte der 1980er Jahre erstmals möglich machte. Juchananovs Faszination mit dieser Technik ist offensichtlich und er entwickelt eine mehr oder weniger kohärente Theorie der Video-Regie, die jedoch, im Nachhinein betrachtet, auch als allgemeine Theorie der Aufzeichnungen, wie man sie in den Zapiski findet, lesbar ist.
In einem kurzen programmatischen Aufsatz formuliert Juchananov etwa eine Video-Poetik als Gegenmodell zur Kino-Poetik: Video konstruiert nicht die Welt, sondern nur sich selbst:
"Видеокамерой мы можем «искажать» реальность, то есть выговаривать свои мысли и эмоции по ее поводу. Выговаривать не реальность, а себя, не конструируя ее, чем занимается обычно кино."[130]
Im Folgenden soll nun die Frage geklärt werden, inwieweit eine mehr oder weniger konsistente Videotheorie für die Lektüre der Zapiski nutzbar sein kann. Kernbegriffe aus dieser Theorie sollen dementsprechend erläutert, gedeutet und gegebenenfalls angewendet werden.
Die Besprechung in diesem Kapitel läuft über mehrere Knotenpunkte. Zunächst soll Juchananovs Begriff der matrica erläutert werden und auch in Zusammenhang mit Bachtins Konzeption von reč und vyskazivanie beschrieben werden. Anschließend wird der Materialbegriff, der schon im vorhergehenden Kapitel relevant war, einer weiteren Prüfung unterzogen. Es soll hier allerdings um die Materialität der aufzeichnenden Medien selbst gehen. Durch Juchananovs Technik, so das Argument, wird auf die Anwesenheit aufzeichnender Medien (Stift, Notizblock, Kamera) hingewiesen und die Besonderheiten dieser Präsenz besprochen. Danach werden diese Beobachtungen in Zusammenhang mit dem Performance-Begriff gesehen, den Juchananov ebenfalls in theoretischen Artikeln, verbunden mit der Video- und Theaterarbeit, entwickelt hat. In Zusammenhang mit der Problematik von Sein und Handeln wird untersucht, ob und inwieweit diese Technik mit der Suche nach Wahrheit in Verbindung gebracht werden kann. In Bezug auf Derrida und Bachtin kann argumentiert werden, dass diese Wahrheit eine performative ist, d.h. sie existiert nur wenn sie ausgesprochen wird. Abschließend soll Derridas Konzeption der Schrift besprochen werden, um auf die Frage der räumlichen Ausdehnung dieser besprochenen Techniken einzugehen. Dabei wird wieder davon ausgegangen, dass literarische Äußerungen nur in Verkettungen zu finden sind und die räumliche Ausdehnung der Schrift bereits eine Aussage (Äußerung im Sinne Bachtins) für sich ist, noch vor der semantischen und narrativen Bedeutungsproduktion.
3.1 Reč und matrica
In einem breiter gefächerten, aber auch detaillierteren Kontext beschreibt Juchananov seine Methodik in dem Artikel „Театр – территория раскрытия универсального потенциала личности.“ Vor dem Hintergrund seines Сад-Projektes und des damit verbundenen Umgangs mit Text beschäftigt er sich mit der Möglichkeit der Improvisation in der Rede und der Transformation von Texten, die ihn zum Begriff der matrica führen:
„Речь можно целиком перевести на бумагу, не редактируя и получить матрицу, из которой далее создавать разные тексты.“[131]
Der Zusammenhang bzw. der Unterschied, der hier zwischen reč' und tekst gezogen wird, soll uns im Folgenden weiter beschäftigen, ebenso wie die matrica, die im Feld zwischen diesen Begriffen liegen könnte. Und obwohl es in der vorliegenden Arbeit bestenfalls am Rande um Theater gehen soll, sei hier vermerkt, dass es genau dieser Zwischenbegriff sein könnte, der das definiert, was man als die Essenz einer Theateraufführung bezeichnen könnte, wie Juchananov einige Zeilen später erläutert: „Точно также может существовать и театральный спектакль – в начале как речь, а потом как текст.“[132]
Juchananov versteht reč als durchgehende Produktion eines gewissen Materials, dessen spezieller Charakter darin besteht, dass es eine ununterbrochene Linie darstellt. Dies kann etwa die Textproduktion eines Schauspielers bei der Improvation sein, die Worte eines Schriftstellers, oder aber auch eine kontinuierliche Aufzeichnung einer „natürlichen“ Realität, mit den Mitteln verschiedener medialer Techniken.
"Считанное и записанное на плёнку бытие являет собой совершенный пример речи, которую дальше можно подвергать монтажным обработкам, отправлять в вариативные игры в виде фильмов вариаций и т.д.“[133]
Die letztendliche Zusammenstellung, die Variante dieses Materials, etwa eine Redaktion einer Inszenierung, ein herausgegebenes Buch oder ein geschnittener Film bezeichnet Juchananov als tekst. Er kommt einem endgültigen Produkt am Nächsten, markiert aber lediglich eine mögliche Variante des Endprodukts unter anderen. Zwischen diesen beiden Polen liegt nun etwas, das Juchananov matrica nennt. Darunter versteht er die Sammlung eines Materials, das in seiner Zusammengehörigkeit bereits eine gewisse Formung hat, das aber noch offen genug ist, um daraus die verschiedensten weiteren Formen (teksty) zu kreieren – inhaltliche Formen genauso wie Ausdrucksformen:
"Это метод сложения произведения, как бы накидывания и порождения достаточно свободной матрицы (хотя и не чисто спонтанной, а определенной в узлах, как это часто бывает в джазе), из которой в дальнейшем вычленяется структура. Матрица - это тот тотальный материал, который считан камерой во время работы видеоавтора. И эта матрица, порожденная вольным, играющим духом актера и как бы таящая в себе не только результат, но и процесс его создания, эта самая матрица дальше как бы отправляется в путешествие."[134]
Letztendlich geht es Juchananov mit diesem Begriff um eine Hinterfragung der Begriffe von Kreation, Material, Spontaneität. Die Arbeitsweisen mit der Videokamera, genauso wie das Material, das bei dieser Arbeit entsteht, lassen sich laut Juchananov eben nicht mit Begrifflichkeiten fassen, die für die Arbeit mit Film oder in einem klassischen Theaterkontext passend wären. Für ihn hinterfragt das Medium Video die bekannten Begriffe von „Arbeitsprozess“ und „Resultat“ auf sehr grundsätzliche Weise. Im Gegensatz etwa zur Bühne, wo im Probenprozess ein szenischer Vorgang erarbeitet wird, dessen Resultat dann im Rahmen einer Aufführung gezeigt wird, oder beim Kinofilm, dessen Arbeitsprozess das Erschaffen einer künstlichen Realität umfasst, mit einem narrativer Film als Endprodukt, ist für ihn der Videofilm, sowohl Prozess, als auch Resultat. Genau das drückt das Wort matrica aus: Es ist einerseits gefilmtes und geformtes Material, das die Arbeit von Videoschauspielern, Videoregisseuren und einer gewissen sozialen Realität zeigt, und somit Resultat; gleichzeitig hat es aber die unfertige und bearbeitbare Qualität eines vorläufigen Prozesses.
Das durchgehende Aufzeichnen des Videoapparates ist somit Voraussetzung für das Entstehen einer matrica. Die technischen Gegebenheiten resultieren in einer gesonderten Poetik, in einer einzigartigen künstlerischen Umgebung. Doch im Einklang mit Juchananovs eigenen Überlegungen sind diese technischen Umstände nicht nur auf die Arbeit mit der Videokamera zu reduzieren. Wie bereits beschrieben, sind Juchananovs Romane, die vor der Arbeit mit Video entstanden sind, einer ähnlichen künstlerischen Ausrichtung zuzuordnen:
"Я брал бумагу и пытался записывать, фиксировать свои впечатления и свое проживание в этом мире, свою фантазию по поводу этого мира. Из этого у меня получались такие странные романы. Я делал магнитофильмы опять же фиксируя действительность. Я бродил по провинциальному городу Воронежу на протяжении 10 дней и пытался записывать его жизнь, фиксировать в магнитофон сам город и давать ему комментарии. Затем я монтировал запись, что-то добавлял к ней и из этого получались романы. Грубоговоря, язанималсявидео."[135]
Ganz ähnlich erläutert Juchananov im Gespräch mit Andrej Sil'vestrov seine Videoarbeiten dieser Zeit und erklärt seine Überlegungen zur Besonderheit der Videokamera anhand seiner frühen literarischen Versuche. Grundlage für seine Theorie ist die Materialität der Aufzeichnungsmedien. Juchananov beschreibt einen (unveröffentlichten) Roman namens «Черт-те что! или В бегах за убегающим временем» mit folgenden Worten:
„Суть его [романа, Anm.] заключалась в том, что я фиксировал свою жизнь в
момент, в который я ее проживал. Вот как мы с тобой сейчас говорим —
передо мной некий блокнот или записная книжка, и я одновременно с тем,
что разговариваю с тобой, фиксирую наш диалог скорописью и
одновременно с этим фиксирую фантазмы, которые крутятся в голове, часто
не решаясь на проявление, иногда заполняя сознание. И вот эту смесь
фантазмов с подлинной фиксацией события в момент его происхождения, в
тот момент, когда оно случается — вот эта техника оказалась для меня очень
органичной, я продвинулся в ней к началу 80-х годов довольно серьезно,
фундаментально“[136]
Das technische Dispositiv Video ist in Juchananovs Eigenanalyse also entscheidend für ein gewisses literarisches Vorgehen. Die Voraussetzung dafür ist jedoch ein ständiges Aufzeichnen einer bestimmten Realität.
„30.01.81.
Я опять в паркнаряде... Надо, надо записать, вроде мелочь, а все-таки запишу.“[137]
Der Zwang, alles aufzuzeichnen, bestimmt das Sein des Soldaten Nikita. Sein Schreiben kann als Versuch charakterisiert werden, eine durchgehende reč im oben beschriebenen Sinne zu produzieren. Er nähert sich dem Apparat an, der, etwa am 30.01.81, noch gar nicht erfunden, oder zumindest nicht verfügbar ist. Im Kontext von Juchananovs Videotheorien erhalten die Zapiski in der Rückschau nunmehr eine nahezu prophetische Qualität. Nikitas Drang zur Aufzeichnung ist Teil der spezifischen Poetik, die mit einer kommenden technischen Neuerung verbunden ist. Gilles Deleuze und Félix Guattari haben diese Antizipation der Änderungen als einen Grundzug der „kleinen“ Literatur beschrieben:
„Die Literatur ist eine vorgehende Uhr, und die Literatur ist eine Angelegenheit des Volkes. Die individuellste literarische Aussagenproduktion ist ein Sonderfall der kollektiven Aussagenproduktion.“[138]
In diesem Sine ist der ständig mitschreibende Nikita Il'in bereits ein Mann der Zukunft. Wie Dziga Vertov zu Beginn der 20er Jahre, den Menschen zum Kino-Menschen, das Auge zum Kino-Auge machen wollte,[139] skizziert Juchananov Anfang der 1980er einen Video-Menschen. Damit wären die auch Zapiski als „kleine“ Literatur im Sinne von Deleuze/Guattari qualifiziert. Wenn sich das kommende technische Dispositiv des Videos bereits in einer literarischen Technik, der sich ein Künstler zuwendet, abzeichnet, dann kann diese Literatur durchaus als „vorgehende Uhr“ bezeichnet werden. Gewiss, es handelt sich dabei nicht um die Vorahnung von großen Katastrophen (Deleuze und Guattari beziehen sich auf die Vorboten des Faschismus und Stalinismus in Kafkas Schreiben), aber doch um eine Art der Vorahnung, die zumindest eine technische Entscheidung retrospektiv rechtfertigt.
3.2 Video-Mensch und Aufschreibe-Mensch
Eine Frage, die sich an die verschiedenen Stufen der Materialhaftigkeit im kreativen Prozess (reč, matrica, tekst) anknüpfen lässt, lautet nun, wie sich das Verhältnis zwischen Autor und dieser Materialität beschreiben ließe und welche Auswirkungen diese auf die (literarischen) Ausformungen haben könnten. Denn wenn Juchananov dem Vorgang des Aufzeichnens als Voraussetzung des Entstehens einer matrica solche Bedeutung beimisst, muss weiters gefragt werden, welche Rolle die Materialität der aufzeichenden Medien selbst spielen. Deren Präsenz müsste demnach in die matrica eingeschrieben sein.
In seinem Text zur „Теория видеорежиссуры“ beschreibt Juchananov das Verhältnis des Körpers zur Kamera. Insofern das technische Setup der Videokamera im Unterschied zum filmischen Dispositiv deutlich weniger komplex ist (ein einzelner Mensch kann die Kamera bedienen, im Gegensatz zu der großen Anzahl an Menschen, die an der Entstehung eines Kinofilms beteiligt sind), kann auch von einer anderen Beziehung des Videoregisseurs zur Realität gesprochen werden.[140] Im Gegensatz zur konstruierten Welt des Kinofilms, die als künstliches Set gebaut wird, ist die Videokamera laut Juchananov in der Lage, die kleinsten Feinheiten im „energetischen Zustand“ einer gewissen Situation wahrzunehmen. Das bedingt auch eine andere Körperlichkeit des aufnehmenden Mediums, die in die Aufzeichnungen einfließt. Im Gegensatz zum reinen Kino-Auge (Vertov) diagnostiziert Juchananov neben dem Video-Auge auch eine Video-Hand und einen Video-Körper. Die Materialität der Kamera und des aufzeichnenden Menschen, des Videoautors, fließen zusammen, gehen ineinander über („стремлениe камеры слиться с видеоавтором“).[141] Die Auseinandersetzung zwischen dem aufzeichnenden Medium und dem lebensweltlichen Material ist also mehrdimensionaler als bei anderen aufzeichnenden Verfahren. Dies lässt Juchananov nun von einem (sinnlich wahrnehmbaren) „Kampf mit dem Autor“ sprechen, den das Material führt. Hierzu benutzt er das Bild der „betrunkenen Kamera“:
„Ну, пьяная камера (назовем это так) или пьяное изображение - все это довольно существенно, потому что здесь, как представляется мне, и на чем я никоим образом не настаиваю, набухает и накапливается энергетика материала и как бы его борьба с автором,..."[142]
Die physische Realität des Aufnahmevorgangs ist, laut Juchananov, im Bereich der Video-Regie, auf sehr spezielle Art und Weise präsent, die mit keiner Präsenz im Bereich des klassischen Filmkinos vergleichbar ist. Die Zapiski können nun, wieder im Lichte der Videotheorie, als ein ähnlicher Versuch gelesen werden, die materielle Präsenz der Aufzeichnung und deren medial-technische Verfahren in das Aufgezeichnete einzuschreiben. Die Zapiski reflektieren diese geradezu klassische Prämisse der Medienwissenschaften[143] auf einer grundsätzlichen Ebene. Die Tatsache, dass Nikita ständig und alles mitschreibt, ist Voraussetzung dafür, dass überhaupt ein Text entsteht. Es gibt keinen ästhetischen oder künstlerischen Grund, der, stillschweigend vorausgesetzt, rechtfertigen würde, warum hier überhaupt etwas entsteht und warum es wichtig wäre, das zu lesen.
Juchananov benutzt nun genau diese Prämisse, um noch weiter zu denken: Wenn etwas in der Welt des Nikita Il'in nicht mitgeschrieben werden konnte, dann hat dies den gleichen Status, als wäre es überhaupt nicht passiert. Diese kurze Passage handelt etwa von der (verpassten) Gelegenheit die Erzählung des Mitsoldaten Sabir aufzuzeichnen:
„Два часа я слушал его. О чем бы не рассказывал Сабир, все укладывается зримыми сочными кусками в память. Проклятая ручка, затерялась куда-то, и я не смог записать его рассказ...“[144]
Das materielle Vorhandensein des Mediums ručka ist die Voraussetzung für die Aufzeichnung der Erzählung. Die Lektüre der Zapiski macht klar, was ihre Entstehungsbedingen sind – das physische Miterleben Nikitas eines bestimmten Ereignisses in seiner Lebenswelt sowie das gleichzeitige oder zumindest nur leicht zeitlich versetzte Aufzeichnen desselben. Die materielle Präsenz von Stift und Notizblock ist wiederum die Voraussetzung dafür. Sobald eine der beiden Voraussetzungen nicht erfüllt ist, hat das Ereignis in der diegetischen Welt der Zapiski auch nicht stattgefunden. Das Äquivalent der „betrunkenen Kamera“ ist der „verfluchte Kugelschreiber“ – Aufzeichnungsmedien, deren Materialität sich in sichtbarer Form in die von ihnen gemachten Aufzeichnungen einschreibt.
Die direkt mit dem Körper verbundene Präsenz des Mediums, die Juchananov der Videokamera zuschreibt, äußert sich auch in der Verbundenheit des aufschreibenden Menschen mit seinen Aufschreibemedien:
„Да! (Говорю я себе.) Наблюдение, познание человека, а потом запись, ты успеешь еще записать, но рука уже тянется к ручке, и блокнотик выползает из кармана.“[145]
Die direkte Verbundenheit zwischen der Anschauung (nabljudenie) und der medialen Reaktion (zapis') äußert sich über die Materialien des Kugelschreibers und des Notizblocks, die ein mit dem Aufzeichner verbundenes Leben führen. Die Existenz von Nikita als Aufschreibe-Mensch, ähnlich dem Video-Menschen, ist somit Voraussetzung für die Existenz und spezielle Form dieser Aufzeichnungen.
3.3 Performans
Ein weiterer Begriff, den Juchananov in seinen theoretischen Schriften entwickelt, und der für die Lektüre der Zapiski von Interesse sein kann, ist der Begriff der performans. Vor allem zum Ende der 1980er Jahre hin entwickelt Juchananov mit der Gruppe Teatr-teatr verschiedene Aktivitäten, die er selbst zwischen Performance und Happening ansiedelt.[146] Der Performance-Begriff wurde am Ende des zweiten Kapitels bereits gedeutet, soll nun aber mit konkreten Beispielen aus der ästhetischen Praxis verbunden werden. Wie bereits ausgeführt, hat die Performance für Juchananov im Gegensatz zum Theater den Vorteil, dass sie die Lücke zwischen Leben und Schaffen nicht vergrößert
"Он [перформанс, Anm.] уходит с территории жизнетворческой. Он уже перестает беспокоиться за эту оппозицию: жизнь – творчество. Он ее снимает. Он как бы не знает о ней. И это довольно существенный эффект."[147]
Die Qualität des nicht vom Leben abgehobenen Performativen wird etwa anhand einer Sequenz aus Juchananovs Film Игра в XO aus der Сумасшедший Принц – Serie deutlich. Grundsätzlich lässt sich auch ein wenig differenzierter Begriff von „Performance“ auf viele Szenen, die in diesem Film und anderen dieser Reihe abgebildet sind, anwenden – schließlich tauchen verschiedenste Größen der unabhängigen Schauspiel-, Performance- und Musikszene der 1980er Jahre darin auf und werden dabei gefilmt, wie sie offensichtlich nicht narrativ motivierte Handlungen, eben Performances, Happenings durchführen. Diese Fragmente haben ihre eigene Logik und Dramaturgie, die nicht unbedingt mit ihrer Position als Teil des vorliegenden Videofilms zusammenhängen. Allerdings werden sie eben durch ihre Präsenz in diesem Videofilm Teil der matrica dieser Video-Serie.
In einer Szene[148] aus Сумасшедший Принц: Игра в XO stellt der Schauspieler Nikita Michajlovskij eine Sterbeszene in einer Wohnung dar. Um ihn herum spielen kleine Kinder, die gleichzeitig Zuschauer seiner Performance als auch Teil davon sind. Die inneren Gesetze der Performance des Darstellers existieren nicht in klarer Trennung vom „Leben“, wie etwa auf einer Bühne, oder in einem abgetrennten theatralen Raum, sondern machen auf zweifache Weise diese Trennung obsolet: Einerseits dadurch, dass die Performance im persönlichen Raum ihrer Zuschauer vor sich geht, deren Leben in direktem Kontakt mit den performativen Handlungen steht; andererseits aber dadurch dass sie alle, sowohl das Spiel des Schauspielers als auch das Leben dieser Menschen, Teil der matrica des Video-Romans sind und nun darin existieren.
In den begrifflichen Differenzierungen, die Juchananov in seinen theoretischen Arbeiten vornimmt, spezifiziert er den einzigartigen Raum der performans, den er als grundsätzlich neu geschaffenen definiert. Darin liegt ein Paradoxon verborgen – es ist ein unmöglicher Raum, weil es immer ein neuer Raum ist. Deshalb ist die performans auch etwas radikal Persönliches, weil eben diese Umstände ausnahmslos von den in die jeweiligen Vorgänge verwickelten Handelnden abhängen:
„Перформанс обостряет в нас то, что я называю индивидуальным бытием, обостряет в нас чувство на индивидуальное бытие. Человек, занимаясь перформансом, является специалистом своего ндивидуального вида искусства, которое в нем уже существует.“[149]
Dieser individuelle Raum, der potentiell geöffnet wird, stellt für Juchananov die Möglichkeit dar, sich selbst weiterentwickelnde, evolutionäre Projekte zu initiieren, die nicht einen alten Mythos oder ein archaisches Ritual wiederholen (wie es die meisten theatralen Produktion seiner Meinung nach tun), sondern ihre eigenen Mythen und Rituale begründen.
In den Zapiski wird das Schreiben zu einem performativen Akt, einerseits indem es, wie bereits gezeigt, auf verschiedene Arten und Weisen im Text selbst thematisiert wird, und andererseits weil deutlich wird, dass das Schreiben auch für andere Beteiligte offen steht und somit ein evolutionär-performativer Prozess sein kann. Hierzu soll eine weitere längere Sequenz zitiert werden::
„3.11.80.
- Про объек тпишешь, да?
- Не-е, небо, деревья, солнце.
- Давай про прицепы.
- Не-е, что про них писать.
- Книга можешь писать? Поэм?
- Могу.
- Писал уже? И чего, получилось?
- Да, в общем, чего-то получилось.
- Про Нагиева пиши, пойди, Нагиев, сюда. Нагиев, ты ему сюда напиши!
Пишет Нагиев:
«Никитос вообще убивает меня в последнее время!»
- Читай, чего тебе написал?
- Ай, га-га-га!
Нагиев шутит:
Ефрейтор Турманидзе, выйти из строя на три шага. Объявляем три штуки ареста. (Га-га-га!) Видишь, какой холод, мороз, а ты расстегнут. Три штуки ареста!..“[150]
Zunächst wird hier ein weiteres Mal die Tatsache thematisiert, dass Nikita die Realität um ihn herum mitschreibt. Auf der narrativen Ebene werden verschiedene Möglichkeiten verhandelt, zu denen sich dieses Schreiben entwickeln könnte – potentielle Sujets (ob''ekt, nebo, derev'ja, solnce) werden versprochen, eine mögliche Form des Schreibens als Literatur (kniga) wird in Betracht gezogen. Sobald allerdings über einen Menschen (Nikitas Kamerad Nagiev) geschrieben werden soll, geschieht etwas Bemerkenswertes: Das Objekt des Schreibens, der Mensch, entwickelt sich sofort zum Autor, zum Schreibenden. Eine Zeile in den Aufzeichnungen eines anderen (Nikitas) wird zum Schauplatz der Performance einer neuen Person (Nagiev), die nun einen Satz ausdrücken kann („Никитос вообще убивает меня в последнее время“). Abgesehen von den inhaltlichen Deutungsmöglichkeiten dieses Satzes steckt darin auch die performans-Poetik, die Juchananov in Hinblick auf theatral-szenische Formen beschrieben hat. Das individuelle, singuläre Sein (indiviudal'noe bytie) wird im Rahmen der schreibenden Performance Nikitas möglich. Ein Aspekt des individuellen Seins von Nagiev, sei es auch zufällig, äußert sich innerhalb des Rahmens der performativen Schrift. Sich seiner selbst bewusstes und selbstreflektives, damit performatives Schreiben, wie es in den Zapiski zeigbar ist, weist ein weiteres Mal auf die engen Verschränkungen von Sein und Handeln hin.
Ein letzter, schwieriger Begriff, der für die Analyse eingeführt werden kann, ist der Begriff der Wahrheit. Dieser ist für Juchananov ein weiteres Charakteristikum der Aussagenproduktion im Video-Medium. Anders als das Kino, das künstliche Realitäten schafft, hat das Video keine Neigung zu einer narrative Anordnung:
"Дело в том, что в принципе видеокино не может рассказывать истории. Ему не дано рассказа, ему не дано сюжета, ему не дано повествования."[151]
Damit kann das Medium nicht täuschen, nicht lügen, da es durch sein anti-konstruktivistisches Dispositiv der Realität verpflichtet ist.
"В силу того, что видео, в общем, считывает натурально. Оно не может обмануться, ему не дано обмануться."[152]
Was hier wieder von Interesse ist, ist Juchananovs Verortung der Video-Technik, der matrica, als Phänomen zwischen Prozess und Produkt. Dies kann nun in Verbindung mit einem grundsätzlichen philosophischen Problem gebracht werden, das Michail Bachtin in seinen späten Aufzeichnungen anspricht. Bachtin stellt die Frage inwieweit es ein Ich, ein Selbst allein für sich selbst überhaupt geben kann und ob es nicht einen grundlegen Unterschied in der Sichtweise auf den Menschen macht, ob er alleine ist, oder nicht. Es gäbe, laut Bachtin, keine Essenz des Menschlichen oder des Ichs, die gültig wäre, wenn man nur einen einzelnen Menschen, abgetrennt vom Anderen (von allen anderen) betrachten würde. Dieses Sein für sich alleine (ja-dlja-sebja) kann keinen Einfluss auf das Sein haben, es hat nur Einfluss auf die Wahrnehmung des Sein (признать). Genau diese Einflussnahme und damit die Möglichkeit zur Freiheit der Kommunikation, des Dialoges, geschieht über das Wort:
„Она [=свобода, Anm.] вырaжается в слове. Истина, правда присущи не самому бытию, а только бытию познанному и изреченному.“[153]
In diesen wenigen Worten steckt eine gesamtes Plädoyer für die Performativität, wie sie bei Juchananov beschrieben wurde. Wahrheit steckt im Handeln, nur durch das Handeln kann sich das Sein äußern. Sein für sich allein ist nichts wert, oder gibt es schlicht nicht, nur das ausgesprochene, bekannt gewordene Sein hat einen Bezug zur Wahrheit.
Damit steckt auch dieses Sein in einem Zwischenstatus, das analog zum Vorhergehenden als „zwischen Prozess und Produkt“ bezeichnet werden kann. Insofern das Video nicht eindeutig einer der beiden Daseinsformen zuzuordnen ist, hat es einen bevorzugten Zugang zur Wahrheit. Diese Aussage lässt sich auch über das performative Mit- und Aufschreiben treffen, das Juchananov in den Zapiski vorschlägt. Der Aufzeichner darin kann gar nicht aufzeichnen ohne auszusprechen, und da er auch nicht wahrnehmen, anschauen kann, ohne aufzuzeichnen, gibt es für ihn auch kein Sein ohne Aussprache. Der seine Biografie, seine Wahrnehmung, sein Sein ständig mitschreibende Mensch ist damit ein vollkommen äußerlicher Mensch, womit die Trennung zwischen Innen und Außen tendenziell aufgehoben wird, analog zum Aufheben der Trennung zwischen Prozess und Produkt, die Juchananov für das Videomedium in Beschlag nimmt.
Nikita wird in den Zapiski somit vom technisierten Video-Individuum, wie es in den vorangehenden Kapiteln beschrieben wurde, zum privilegierten Wahrheits-Medium.
3.4 Raum und Schrift
Im bereits zitierten Interview mit Andrej Sil'vestrov bietet Juchananov eine Definition des Begriffs matrica an, die einen weiteren Terminus enthält, der für die vorliegende Analyse hilfreich sein kann:
„Матрица — это весь объем снятого материала внутри определившейся темы. [...]. Весь снятый материал является особой игрой в текстование жизни, искусственно спровоцированной или сооруженной и естественно вошедшей внутрь съемки.“[154]
Wenn die materielle Existenz des Textes der Zapiski, wie bereits mehrmals versucht, als matrica gedeutet wird, liegt hier ein weiterer hilfreicher Vergleichsmoment vor. Zentraler Begriff ist hier ob''em – „Raum, Extensität“. Das Verfahren, das Juchananov beschreibt, das Herausbrechen und Aufbauen einer gewissen Linie im Prozess der tekstovanie des Lebens, der vorgängigen Realität, ist fast übergangslos mit dem Vorgang der Aufzeichnungen der Zapiski vergleichbar. Die dabei entstehende matrica bedingt gleichzeitig die Entstehung eines gewissen Raumes, einer Extensität und damit auch Exteriorität. Auf die Äußerlichkeit der Wahrheit in Hinblick auf den Performance-Begriff wurde bereits eingegangen, nun soll es darum gehen, diese Ausdehnung der matrica mit einem Konzept der Schrift und Schriftlichkeit in Verbindung zu bringen, wie es sich bei Jacques Derrida findet.
Derridas Schriftbegriff speist sich aus einer systematischen Kritik des Zeichenbegriffs von Ferdinand de Saussure und darüber hinaus der Zeichengeschichte westlich-metaphysischer Prägung. Grob zusammengefasst: Saussures kategorische und grundlegende Unterscheidung zwischen Signifikant und Signifikat deutet für Derrida darauf hin, dass letztlich ein idealisiertes, „transzendentales“ Signifikat bevorzugt wird, also eine Idee, der gegenüber zunächst die Verlautlichung und in weiterer Folge die Verschriftlichung davon abgeleitete Signifikanten wären. Diese Grundsätzlichkeit des Signifikats ist für Derrida jedoch wenig überzeugend:
„Kein Element kann je die Funktion eines Zeichens haben, ohne auf ein anderes Element, das selbst nicht einfach präsent ist, zu verweisen, sei es auf dem Gebiet der gesprochenen oder auf dem der geschriebenen Sprache. Aus dieser Verkettung folgt, daß sich jedes ‚Element‘ – Phonem oder Graphem – aufgrund der in ihm vorhandenen Spur der anderen Elemente der Kette oder des Systems konstituiert.“[155]
Bedeutungsproduktion lässt sich demnach nicht als System von Verweisen auf eine ursprüngliche Bedeutung oder einen Sinn beschreiben, die durch das transzendentale Signifikat repräsentiert wären. Vielmehr spricht Derrida von einer Verkettung von Signifikanten, die jeweils auf eine gewisse Absenz verweisen, oder, anders ausgedrückt, von einem „systematische[n] Spiel der Differenzen, der Spuren von Differenzen, der Verräumlichung, mittels derer sich die Elemente aufeinander beziehen.“[156] Demzufolge macht es, laut Derrida, wenig Sinn, sich auf die Suche nach einem Ursprung zu begeben:
„‘Signifikant des Signifikanten‘ beschreibt im Gegenteil die Bewegung der Sprache – in ihrem Ursprung; aber man ahnt bereits, daß ein Ursprung, dessen Struktur als Signifikant des Signifikanten zu entziffern ist, sich mit seiner eigenen Hervorbringung selbst hinwegrafft und auslöscht. Das Signifikat fungiert darin seit je als ein Signifikant. Die Sekundarität, die man glaubte der Schrift vorbehalten zu können, affiziert jedes Signifikat im allgemeinen, affiziert es immer schon, das heißt, von Anfang, von Beginn des Spieles an.“[157]
Aufgrund dessen versucht Derrida den Begriff der Schrift zu rehabilitieren, die im Laufe der Geistesgeschichte immer wieder als sekundäres, parasitäres System definiert wurde, und dem Gedanken, dem logos, und dessen phonetischer Repräsentation nachfolge und ihnen untergeordnet wäre. Gerade die räumliche Ausdehnung der Schrift zeigt für Derrida eine Nähe zu der Verräumlichung des Spiels der Differenzen an.
In diesen Spielen von An- und Abwesenheit, Verkettung der Signifikanten, etc. steckt ein dekonstruktives Potential, das die klaren Wege der Bedeutungsproduktion immer wieder in Frage stellt. Eine Strategie, dieses Potential zu entschärfen, ist laut Derrida das Konzept des Buches. Das Buch hat die Kraft, eine prinzipiell wild wuchernde Signifikantenkette unter der gemeinsamen Prämisse einer Totalität, einer geteilten Idee zu zähmen:
„Die Idee des Buches, die immer auf eine natürliche Totalität verweist, ist dem Sinn der Schrift zutiefst fremd. Sie schirmt die Theologie und den Logozentrismus enzyklopädisch gegen den sprengenden Einbruch der Schrift ab.“[158]
Wenn der Idee des Buches die der Schrift entgegengesetzt wird, können die Sonderform der Aufzeichnungen im Allgemeinen und die der vorliegenden Zapiski im Speziellen als eben dieser Idee der Schrift zugehörig verstanden werden. Obwohl Tendenzen zur Fixierung eines ideellen Sinns durch die Rahmung der Worte des Herausgebers erkennbar sind, verweigern sich die Zapiski zu großen Teilen der ideenhaften Einheit eines „Buches“. Die assoziativen (oder, in Deleuzes Worten „sympathischen“) Verkettungen von Aufzeichnungen erzeugen in ihrem Fluss verschiedene nicht festgeschriebene Deutungsmöglichkeiten. Es ist kaum möglich, einen übergreifenden Sinn aus diesen Aufzeichnungen herauszudestillieren, der maßgeblich über ihre Materialität, ihr Da-Sein hinausgeht.
Dementsprechend lässt sich Juchananovs Vorgehen in den Zapiski wieder auf das Verhältnis zwischen Kunst und Leben beziehen, diesmal in Form des Zusammenhangs von vorsprachlicher Erfahrung und Schrift. Für Derrida ist diese Schriftlichkeit, dieser Spur-Charakter als grundsätzlicher zu betrachten als die Erfahrung an sich. Dies kann in Verbindung mit dem performativen Charakter der Zapiski, wie er zu beschreiben versucht wurde, gelesen werden: Die Realität, in der Nikita schreibt, wird durch die Aufzeichnungen erst hervorgebracht, ganz gleich ob es sich um „Ausschnitte“ aus dem „echten Leben“ handelt. Ohne die Aufzeichnungen gibt es gar kein echtes Leben.
Dazu lässt sich eine Stelle aus dem Roman zitieren, die „rein als Schrift“ und ohne ausgewiesene sprechende Instanzen (Figuren) als Teil des Textes fungiert. Es geht um den Akt des Schreibens:
„- Ты чего там пишешь? Эй! Ночью чего-то пишет! Ты чего там пишешь? А? Ты что, видишь что-нибудь? Да ты ничего не пишешь. А? Ты чего, после отбоя пишешь? А? (Вырывает.) Ну-ка, дай, дай, дай, я посмотрю... Ты ж ничего не пишешь. Вот давай на свет, я посмотрю (синий ночник)… Ладно, давай завтра утром, хорошо… А щас иди спать. Иди, тебе говорю!“[159]
Kein anderes Sujet als die Tatsache des Schreibens wird hier aufgezeichnet. Jede Erfahrung wird in diesem Ausschnitt mitgeschrieben, selbst die Anmerkung des Sprechenden, dass der Aufzeichnende ja gar nichts schreiben würde. Die Sequenz hat das Schreiben selbst zum „Gegenstand“ wodurch das Konzept eines „Sujets des Schreibens“ selbst in Frage gestellt wird. Das unbedingte und ununterbrochene Mitschreiben erzeugt eine matrica und damit eine gewisse Räumlichkeit (ob''em). Diese Räumlichkeit besteht vor den Zuschreibungen, die einem bestimmten Textfragment narrative Bedeutung zuweisen könnten. Die ununterbrochene Aufzeichnung erzeugt einen vorgängigen Raum, bedeutet aber, im gängigen Sinne des Wortes, „nichts.“ Genauso wie Nikita eigentlich nichts schreibt (allenfalls dass er schreibt), entziehen sich diese Textpassage und andere vergleichbare Abschnitte der Zapiski dem Diktat der narrativen Aussage, ganz so, wie laut Derrida die Schrift vor einem transzendentalen Signifikat existiert. Die Textpassage wird, wenn so etwas möglich ist, zur reinen Aussage, zur reinen Äußerlichkeit.
An dieser Stelle kann die zu Beginn dieser Arbeit zitierte Passage aus Bachtins Abhandlung über die Redegenres in Erinnerung gerufen werden:
„Ведь язык входит в жизнь через конкретные высказывания (реализующие его), через конкретные же высказывания и жизнь входит в язык.“[160]
Die Sprache wird in Bachtins Konzeption dadurch „realisiert“, dass sie ins Leben durch konkrete Äußerungen eintritt (und umgekehrt). Grundsätzlich sind diese Äußerungen jedoch immer durch situationsbezogene Semantik auf die eine oder andere Weise gefärbt, „intoniert“, so dass eigentlich nie von einer „reinen Äußerung“, von reiner Äußerlichkeit, gesprochen werden kann. Juchananovs Poetik der Aufzeichnung kann jedoch als Versuch in diese Richtung gedeutet werden. So wie die spezifische Technik der Videokamera matricy erzeugen kann, die jenseits der Unterscheidung von Prozess oder Produkt liegen; so wie Jacques Derrida der endlosen Verkettung der Schrift im Spiel der Differenzen die Vorrangigkeit vor der Unterscheidung zwischen Signifikant und Signifikat einräumt; so wie Bachtin das Wechselspiel zwischen Leben und Äußerung durch die Sprache beschreibt, docken die Aufzeichnungen des Soldaten Nikita Il'in in den Momental'nye Zapiski an eine Art der Bedeutungsproduktion an, die sich gängigen Beschreibungen und Dichotomien entzieht. Passagen, wie die zitierte aus den Zapiski, sind sich ihrer Materialität als Aufzeichnung bewusst und wissen, dass diese Materialität auf eine Art von Bedeutung verweist, die nicht dem entspricht, was eine narrative Semantik produzieren kann. Letztlich wird auf eine Bedeutungsproduktion verwiesen, die jenseits der Dichotomie Autor-Sujet liegt und in die Richtung geht, die zu Beginn dieses Kapitels als der Versuch beschrieben wurde: den Text dazu zu bringen, dass er sich selbst schreibt.
4. Künstler Werden
4.1 Bildung und Entwicklung
Jacques Derridas Vortrag über Maurice Blanchot, der in Kapitel III.1 bereits angesprochen wurde, lässt als Bezugsrahmen für das Denken des „Schreibens des Künstlers über sich“ einen anderen Text durchscheinen, der durchaus paradigmatisch für eine bestimmte europäische Tradition der Autobiografie steht: Johann Wolfgang Goethes Dichtung und Wahrheit. Goethe beginnt diesen Text mit einer bemerkenswerten Geste. „Als Vorwort zu der gegenwärtigen Arbeit“ setzt er „hier den Brief eines Freundes, durch den ein solches, immer bedenkliches Unternehmen veranlaßt worden.“[161] Dieser Zug erweckt den Anschein, als sei es notwendig, für den folgenden Text „über sich“ im Voraus eine Rechtfertigung zu formulieren. Und tatsächlich ist dieser „Brief eines Freundes“ nicht authentisch, sondern fingiert, auch wenn er vielleicht tatsächliche Korrespondenzen Goethes widerspiegelt. Er ist Teil des literarischen Textes und spielt am Anfang des Textes eine gewisse Rolle, die als spezifisch für autobiografische Texte beschrieben werden kann – eine distanzierende Rechtfertigung.
„Искусство и жизнь не одно, но должны стать во мне единым, в единстве моей ответсвенности“,[162] schreibt Michail Bachtin 1919. Bedeutet dies auch, Verantwortung für den eigenen Text zu übernehmen? Zu Beginn von Kapitel III wurde bereits die erklärende Vereinnahmung des „Herausgebers“ im Falle des Zapiski besprochen. Im Kontext von Goethes Autobiographie kann diese Geste neu gedeutet werden. Beide Texte vereint ein gemeinsames Moment der Abgabe von Verantwortung, der Distanzierung der realen Person von der, deren Schicksal im Text beschrieben ist. Indem Goethe den Brief eines Freundes fingiert, mildert er die Hybris ab, ein Buch nur über sich selbst und die persönliche künstlerische Entwicklung aus eigenem Antrieb heraus geschrieben zu haben. Juchananov gibt die Verantwortung ab, indem er sich als Herausgeber ausgibt, und entkommt der Frage nach der Legitimation dieser Aufzeichnungen.
Eine weitere Parallele beider Texte findet sich im Topos der Entwicklung zum Künstler hin. Juchananovs Vorwort des izdatel' beginnt wie folgt:
„Предоставляю вниманию читателя записки некоего молодого человека по имени Никита Ильин. Содержание этих записок показалось мне необычайно существенным. В этом романе о праведном юноше спрятана история посвящения души. Историяобретенияипотерисвятогосознания.“[163]
Die istorija posvjaščenija duši kündigt nichts weniger als einen Bildungsroman im klassischen Sinne an. Im Umfeld der Werke Goethes ist das Genre des Bildungsromans jedoch mit einer weiteren Reihe von Werken konnotiert, in denen ein klassisches auktoriales Autor-Held-Verhältnis vorherrscht – die Rede ist hier von den Wilhelm Meister-Romanen. Diese stehen den Aufzeichnungen Goethes gegenüber, dessen Held er selbst ist (neben Dichtung und Wahrheit auch die Italienische Reise).
Juchananovs Aufzeichnungsroman lässt sich in diesem Rahmen wieder in einer Zwischenposition verorten. Einerseits ist er formell dem klassischen auktorialen Verhältnis verpflichtet (ein Autor, Boris Juchananov, fingiert einen Herausgeber, der die Aufzeichnungen seines Helden, Nikita, herausgibt), andererseitshat der Roman die Form von personalisierten Aufzeichnungen, über die aus dem Paratext ersichtlich ist, dass sie auf Erlebnissen des realen Boris Juchananov basieren. Die Figur der Bachtinschen otvetstvennost', welche die Verbindung zwischen Kunst und Leben verwaltet, wird also auf ambivalente Art und Weise behandelt, und pendelt im erzählerischen Paradigma hin und her, das in diesem Fall als von Goethes Werken umspannt beschrieben werden kann.
Im Folgenden soll die Frage nach der Verortung des Textes zwischen Aufzeichnung und (Auto-)Biografie ein weiteres Mal aufgegriffen und mit dem Bachtinschen Begriff des Bildungsromans (roman vospitanija) in Verbindung gebracht werden. Zunächst wird allerdings noch auf Bachtins Ausführungen zum biografischen Roman in seinem längeren Aufsatz „Формы времени и хронотопе в романе“ (ca. 1938, überarbeitet 1973) eingegangen. Dort beschreibt Bachtin die Ausformung biografischer und autobiografischer literarischer Formen in Zusammenhang mit allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen. Dass sich als Teil der Literaturentwicklung überhaupt die Frage nach der Möglichkeit eines Erzählens des eigenen (bzw. fremden) Lebens stellen konnte, korreliert für ihn mit der Herausbildung des Konzepts des Privaten und des Verlusts der öffentlichen Ganzheit überhaupt:
„Постановка подобного вопроса говорит о том, что классическая публичная целостность человека распадалась и начиналась принцириальная дифференциация биографических и автобиографических форм.“[164]
„Die Tatsache, daß eine derartige Frage aufgeworfen wurde, zeugt davon, daß die klassische öffentliche Ganzheit des Menschen in Zerfall begriffen war und eine prinzipielle Differenzierung der biographischen und der autobiographischen Formen einsetzte.“[165]
Dass es überhaupt möglich wurde, in literarischer Form von sich selbst und seinem Leben zu berichten, deutet Bachtin als Produkt einer gesellschaftlichen Disposition, die festlegt, was persönliches und was öffentliches Leben ist, und dadurch erst möglich macht, von sich etwas zu erzählen, das nicht ohnehin öffentliches Gut ist:
„Всякое бытие для грека классической эпохи было и зримым и звучащим. Принципиально (по существу) невидимого и немого бытия он не знает.“[166]
„Für den Griechen der klassischen Epoche war jegliches Sein sowohl sichtbar als auch hörbar. Ein grundsätzlich (vom Wesen her) unsichtbares und stummes Sein gab es für ihn nicht.“[167]
Die autobiografischen Genres der Neuzeit sind demnach erst eine spätere Entwicklung. Einerseits haben sie eine religiöse Attribution (man vergleiche die confessiones verschiedener Ausrichtungen) andererseits auch eine direkte Repräsentation in der sozialen Wirklichkeit – nur wenn es Sinn macht, von Privatem im Gegensatz zu Öffentlichen zu sprechen, besteht überhaupt die Möglichkeit eines Berichts über das eigene Sein und den eigenen Werdegang.
Genausowenig wie der Chronotop-Aufsatz ist auch Bachtins späterer, fragmentarischer Versuch „Роман воспитания и его значение в истории реализма. К исторической типологии романа“, als umfassende Romantheorie zu verstehen. Bachtin versucht vielmehr, historische Entwicklungslinien anhand formaler und inhaltlicher Kriterien aufzuzeigen und Kategorien für diese Phänomene zu finden. Darin taucht auch eine Klassifizierung als biografičeskij roman auf, worunter Bachtin allerdings weitläufig Werke der Weltliteratur wie etwa auch Fieldings Tom Jones versteht. Bachtins historischer Versuch versucht letztendlich darzustellen, wie sich das Bild des Menschen in den erzählerischen Formen gewandelt und, umgekehrt, welchen Einfluss diese Entwicklung auf eben diese erzählerischen Formen hatte. Dahingehend verstanden, trifft der Begriff biografičeskij weniger auf einen Kanon an Werken zu, sondern beschreibt vielmehr ein gestalterisches Prinzip:
„И вообще чистой формы биографического романа, в сущности, никогда не существовало. Существовал принцип биографического (автобиографического) оформления героя в романе и соответствующего оформления некоторых других моментов романа.“[168]
Eine weitere Differenzierung, die Bachtin etwas später vornimmt, ist ebenfalls für die vorliegende Lektüre interessant. In Bezug auf die Möglichkeit des „menschlichen Werdens“ (stanovlenie čeloveka) im Roman unterscheidet Bachtin zwischen verschiedenen Formen der Organisation der Zeit in der Erzählung und welche Möglichkeiten der Entwicklung sie zulassen. In der Abenteuerzeit ist etwa keine Entwicklung möglich, da der Held hier immer schon „fertig“, ein geschlossenes Ganzes ist. Die fortlaufende Entwicklung eines spezifischen Individuums zu zeigen, ist laut Bachtin im Gegensatz dazu (in der historischen Entwicklung des Romans) nur möglich vor dem Hintergrund der so genannten zyklischen Zeit (cikličeskoe vremja).[169] Der Name stammt daher, dass die Entwicklung des Menschen als wiederkehrend, wie die Jahreszeiten, beschrieben wird, die den Menschen anhand seines Alters von jung bis alt weiterführend begleitet. Als Beispiel einer Erzähltechnik, wo diese Form dominant vorkommt, nennt Bachtin etwa Tolstoj.
Hier lässt sich ein ersten Blick auf die Zapsiki werfen. Wie verhält sich Bachtins Konzeption der zyklischen Zeit zur Form des Aufzeichnungsromans wie er hier vorliegt? Zunächst ist zu sagen, dass, wie es Bachtin auch ausführt, sich das Werden, jede Veränderung des Helden, umso deutlicher abzeichnet, wenn es vor einem zyklischen Hintergrund stattfindet. (Fast) jedem Eintrag in die Zapiski ist ein Datum (wie ein Tagebuch) vorangestellt. Obwohl das stete Voranschreiten der Zeit eine Grundvoraussetzung ihrer Konzeptualisierung ist, kann sie, paradoxerweise, auch als zyklisch beschrieben werden: Dadurch, dass Jahreszeiten, Monate, Jahre immer wiederkehren, erhalten die zwei Jahre des Militärdienstes eine zyklische Qualität. Der Fortgang der (historischen) Zeit ist somit etwas Gegebenes und Unabwendbares. Damit korreliert auch die Eintönigkeit von Nikitas Alltag im Militärdienst.
Um Nikitas Entwicklung deutlich herauszustellen, muss also ein Kontrast zwischen seiner inneren Entwicklung (die, wie wir später noch beschreiben werden, eine unbedingt künstlerische ist) und den äußeren (die historische Zeit genauso wie die spezifische Militärzeit) gegeben sein.
Darüber hinaus untersucht Bachtin das Verhältnis zwischen den Ereignissen einer Erzählung und der Entwicklung eines bestimmten Charakters, des Helden dieser Erzählung. Für Bachtin liegt darin auch ein tiefgreifender Unterschied zwischen dem Bildungsroman (roman vospitanija) und dem biografischen Roman (biografičeskij roman). Im Bildungsroman wird der Held, laut Bachtin, einer systematischen Abfolge von Prüfungen ausgesetzt, anhand derer sich sein Charakter herausbildet und auf ein gewisses Ideal hinarbeitet. Die Züge, die sich dabei herausbilden, sind allerdings abstrakt-idealisierte Charaktereigenschaften. Dem gegenüber steht die spezifische biografische Konstellation des Romans:
„Вместо абстрактной последовательной героизации романа испитания здесь герой характеризуется как положительными, так и отрацителными чертами (он не испытывается, а стремится к реальным результатам). Но черты эти носят твердый, готовый характер, они даны как такие с самого начала, и на всем протяжении романа человек остается самим собою (неизменным). События формируют не человека, а его судьбу (хотя бы и творческую).[170]
Wie ist diese letzte parenthetische Formulierung zu deuten? Ist die Situation eine andere, wenn es sich um ein künstlerisches Schicksal handelt (tvorčeskaja sud'ba)? Bachtin würde somit suggerieren, dass es sich beim Künstler um einen besondern Menschentyp handelt, dessen biografische Erzählung folglich auch anders gesehen und behandelt werden muss. Dies scheint nun aber auf seltsame Art und Weise mit der Grundprämisse vieler künstlerischer Autobiographien übereinzustimmen. Die Rechtfertigung, die Juchananov an den Anfang seines Herausgeber-Vorwortes stellt, zielt auf genau diese Umstände ab: Eben weil hier eine istorija posvjaščenija duši mitzuerleben sein wird, lohnt es sich, diesen Roman zu veröffentlichen und somit zu lesen. Genauso wie Goethe seine Autobiografie mit einer fingierten Rechtfertigung stützt, wird hier darauf hingewiesen, dass es sich hier um die Künstlerwerdung eines Menschen handelt, was die Aufmerksamkeit legitimiert.
Im Text der Zapiski selbst spiegelt sich diese Fragestellung an verschiedenen Stellen wieder. So formuliert Nikita zu Beginn der Aufzeichnungen ein künstlerisches Programm für deren Fortgang:
„Цель: дать вереницу смачных армейских типов, понять систему здешних отношений, выразить всю тягость, все опасности вездесущего, всепроникающего ожлобления, ожирения душ. Откуда столько недоброго в людях? Доброе откуда?“[171]
Die Aufgabe, die sich Nikita hier stellt, ist eine eindeutig künstlerische. Juchananov scheint explizit darauf aufmerksam machen zu wollen, dass diesen Aufzeichnungen, trotz aller unvermeidlichen Zufälligkeit, Redundanz und Hermetik, ein künstlerischer Anspruch innewohnt, und dass dieser Anspruch mit der persönlichen Entwicklung von Nikita Il'in verbunden ist. Der eine Faktor bedingt den anderen. Am Deutlichsten tritt dies in den Kapitelüberschriften zu Tage, die das künstlerische Eingreifen einer Autoreninstanz eindeutig zeigen. Die Funktion dieser Überschriften kann nun etwas deutlicher herausgearbeitet werden. Meistens ist ihnen eine suggerierte Leseart des folgenden Kapitels zu entnehmen. Das muss jedoch nicht unbedingt dem entsprechen, was tatsächlich in diesem Kapitel zu finden ist. Die Übergänge, Klammern, sinnstiftenden Argumentationen und Brücken, die aus den Aufzeichnungen eine gewisse Richtung, Erziehung (vospitanie) herauslesen lassen, finden vor allem in diesen Kapitelüberschriften statt.
Bereits im zweiten Kapitel wird mit den Worten „[Никита] начинает записывать слова, которые поет его душа“[172] ein künstlerisches Motiv als Grundton der Erzählung eingeführt. Es sind somit gerade diese Überschriften, die die Aufzeichnungen davon unterscheiden, einfach nur Aufzeichnungen zu sein, sondern sie forcieren geradezu die Leseart – „Künstler im Werden“ und damit auch ein „Schreiben im Werden“. Gerade dadurch erhalten die Zapiski ihre Literarizität im klassischen Sinne. Beinahe vor jedem Kapitel finden sich antizipierende Zusammenfassungen, die nahelegen, die kommenden Aufzeichnungen im Hinblick auf künstlerisches Wachsen und Lernen zu interpretieren. Einerseits werden die Aufzeichnungen selbst als auf Kunst ausgerichtet qualifiziert. So werden im gerade zitierten Ausschnitt die Worte, die Nikita schreibt als „Gesang der Seele“ bezeichnet („слова, которые поет его душа“) und sein Stift als Aufzeichnemedium definiert („неизменный карандаш Ильина бойко фиксирует человеческую разность, так отчетливо проявляющуюся в условия хармейской службы)“.[173]
Andererseits zielt ein großer Teil dieser Sequenzen darauf ab, die Abfolge der Aufzeichnungen von Ereignissen als auf eine seelische und geistige Entwicklung ausgerichtet zu interpretieren. So wird sehr früh davon gesprochen, dass Nikita eine „schöpferische Krise“ durchlebt („[он] переживает первый творческий кризис, ведет борьбу с хаосом, обретая черты человека безразличного; и рождается в душе маленького солдатика нежность“),[174] Nikita entdeckt in sich einen Philosophen („обнаруживая в себе философа“),[175] stellt sich schriftstellerische Aufgaben („ставит перед собой писательские задачи [...] в итоге, обретает веру в себя и свой роман“),[176] durchlebt neue Etappen („проходит новый этап в преодолении себя“),[177] und Erleuchtungen („переживает наконец просветление, наблюдая за одуванчиками“).[178] Die Nähe zu schriftstellerischen Vorbildern wird dabei explizit betont: („[он] учится у Льва Толстого рисовать графические портреты“).[179]
Die Überschrift des letzten Kapitels schließlich, die hier in voller Länge zitiert werden soll, erweckt den Eindruck eines mehr oder weniger abgeschlossenen Werdeganges, und legt nahe, dass der Leser nun diesen Werdegang miterlebt hat:
„Глава последняя, в которой Никита в новом стиле пишет портреты сослуживцев, сочиняет сонет, делает большой перерыв в записях, признается, что теряет к ним интерес, уходит в последнюю самоволкуи…“[180]
Es scheint, dass diese Überschriften als Bindeglied funktionieren, um den Aufzeichnungen im Spannungsfeld zwischen Tagebuch und Biografie, das am Anfang des Kapitels ausgebreitet wurde, einen verortbaren Platz zuzuweisen. Vielleicht sind sie somit geschrieben, um letztendlich die Lesbarkeit der Aufzeichnungen zu erhöhen.
4.2 Sein und Handeln
Nachdem im vorhergehenden Abschnitt die Frage nach der Rahmung des vorliegenden Textes in Bezug auf die Frage des Künstler/Schriftsteller-Seins erläutert wurde, kann nun nach den besonderen Umständen gefragt werden, unter denen das Schreiben als Künstler-Sein mit dem Handeln als Mensch-Sein zusammenhängt. Unter Rückgriff auf Bachtin sollen somit Aspekte der Frage nach Sein und Handeln als Schriftsteller besprochen werden.
Zu Beginn möchte ich auf einige kurze Sequenzen aus den Zapiski eingehen, in denen die Frage verhandelt wird, wie die Aufzeichnungen als Handlung sich zum Phänomen des Lebens (des eigenen Lebens und das der Anderen) verhalten. Das grundsätzliche Interesse, das Sein (der anderen) an sich zu verstehen, wird an einer Stelle explizit thematisiert:
„Для того, чтобы понять, надо научиться не придумывать, не дописывать, не подгонять - фиксировать.“[181]
In diesem kurzen Zitat findet sich eine Poetik des Verhältnisses zum Leben. Das erkennende Verstehen lässt sich nicht durch Vernunft oder Denken erreichen, sondern im Tun – man muss es fixieren, aufschreiben. Das Verstehenwollen der Menschen ist damit der Antrieb hinter den Aufzeichnungen.
Einige Seiten weiter wird dieser Antrieb, die Begründung für das Aufschreiben, bereits wieder in Frage gestellt. Der Erzähler stellt die direkte Verbindung, die er im oben erwähnten Zitat zwischen aufschreiben (fisksirovat') und verstehen (ponjat') gezogen hat, wieder in Frage:
„Последнее время мучает мысль (и мешает) - опасно записывать все время за своей жизнью – хиреет фантазия - всё время на себе - самообман - кубики.“[182]
Das Mitschreiben, das ständige Aufzeichnen, so meint der Erzähler, lässt die Fantasie verkümmern. Es hat damit einen negativen Einfluss auf sein eigenes Leben. Das ständige Handeln des Mitschreibens beeinflusst die Koeffizienten des Seins. Sind Schreiben und Leben letztlich doch unvereinbare Gegensätze? Das folgende Zitat scheint das zu bestätigen:
„Сижу на земле и смотрю, как колеблются травинки. Человек не прожил бы дня так, откликаясь на каждое дуновение. Откинулся на спину, зажмурился - солнце печёт. Сел... золотистые решеточки-блики плавают перед глазами.“[183]
In jedem Fall wird eine mögliche Aporie zwischen Schreiben und Leben thematisiert. Im Gegensatz zu diesen Passagen scheinen jedoch die bloße Existenz der Aufzeichnungen an sich und die Ausführungen, die wir bis jetzt versucht haben, zu bekräftigen, dass diese beiden Konzepte sich nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig bedingen. Schreiben als Kulturtechnik, „to make sense of the world“ wäre demnach ein zentrales Anliegen der Zapiski.
In Michael Holquists Bachtin-Lektüre wird ein weiteres Mal auf die Konstitution des Selbst im Austausch mit dem Anderen hingewiesen. Holquist interpretiert Bachtin im klaren Gegensatz zu Sigmund Freuds Position, der in Holquists Lektüre das Ich als Verkümmerung und im ständigen Kampf gegen soziale Zwänge sieht:
"In Bakhtin, on the contrary, the movement is from a non-self through the gradual accretion of different languages to a self that evolves and that is at any moment the sum of its discursive practices. If in Freud the self is suppressed in service of the social, in Bakhtin it is rather a function, indeed a creation, of the social. In Freud, the more other, the less self; in Bakhtin, the more other, the more self."[184]
Im Zusammenhang der Zapiski ließe sich dieser Gedanke folgendermaßen umdeuten: Genauso wie jeder Mensch den Anderen braucht, um seine Persönlichkeit herauszubilden, braucht der Schriftsteller das Umfeld fremder Prosa, um seine eigene Prosastimme herauszubilden. In Kapitel III.2 wurde bereits auf Nikitas intertextuelle Umgebung aus Zitaten, Prätexten und Büchern hingewiesen. In Bezug auf das hier verhandelte Thema des „Künstler-Werdens“ lässt sich nun folgender Gedanke formulieren: Auch die Prosa von Nikita braucht den Kontakt mit dem Anderen um am Anderen zu wachsen und sich selbst zu werden. Die fremde Prosa, die in seinen Text gerade durch das ständige Mitschreiben von originären Dialogen eindringt und dadurch einen signifikanten Anteil des Romantextes ausmacht, ist das notwendige Andere für die eigene Prosa, für den eigenen Text. Nikitas Wachsen als Künstler geht also im ständigen fruchtbaren Austausch mit fremder Prosa vor sich. Dieser Prozess geschieht im Handeln des ununterbrochenen Aufzeichnens der ihn umgebenden Realität.
Eine ähnliche Faszination mit der Handlung als Grundlage für die Wahrheit lässt sich in vielen Facetten von Bachtins Schreiben ausmachen.[185] Gleichermaßen scheint Juchananovs Aufzeichnungs-Roman die These zu vertreten, dass es erkennendes Schreiben nur als Handeln gäbe. In der Arbeitsweise der Zapiski sind Sein, Handeln und Kommentieren eng verschänkt.
Bachtins frühe Beschäftigungen mit der Suche nach einer „ersten Philosophie“ können in einer ähnlichen Richtung verstanden werden.
„Отсюда ясно, что первая философия, пытающаяся вскрыть бытие-событие, как его знает ответственный поступок, не мир, создаваемый поступком, а тот, в котором он ответственно себя осознает и свершается, не может строить общих понятий, положений и законов об этом мире (теоретически-абстрактная чистота поступка), но может быть только описанием, феноменологией этого мира поступка. Событие может быть только участно описано.“[186]
„Von daher ist klar, dass eine Erste Philosophie, die versucht, das Seins-Ereignis sichtbar zu machen, wie es die verantwortliche Handlung kennt, nicht die durch die Handlung geschaffene Welt, sondern jene, in der die Handlung sich verantwortlich erkennt und vollzogen wird, keine allgemeinen Begriffe, Thesen und Gesetze über diese Welt (die theoretisch-abstrakte Reinheit der Handlung) konstruieren kann, sondern nur eine Beschreibung, eine Phänomenologie dieser Handlungswelt sein kann. Ein Ereignis kann nur partizipativ beschrieben werden.“[187]
Die von Juchananov gewählte Form der Aufzeichnungen lässt sich in enge Verbindung mit der Konzeption des „emotional-volitiven“ (ėmocional'no-volevoj) bringen, mit einem Terminus, der Bachtins Denken von seinem Frühwerk an begleitet. Laut Bachtin kann es keine Positionierung der „Welt“ gegenüber, ja überhaupt kein „Sein“ geben, das nicht eine emotional-volitive Handschrift trüge:
„Эмоционально-волевым тоном мы обозначаем именно момент моей активности в переживании, переживание переживания как моего: я мыслю –поступаю мыслью.“[188]
„Als emotional-volitiven Ton bezeichnen wir gerade das Moment meiner Aktivität im Erleben, das Erleben des Erlebens als meines: Ich denke – ich handle durch den Gedanken.“[189]
Jede Konzeption von „Subjektivität“ ist somit laut Bachtin ein weiteres Moment der emotional-volitiven Aufladung, die jedes Handeln (mit)bestimmt. Damit wird diese Konzeption zu einem Grundpfeiler von Bachtins Verschränkung von Handeln und (Er-)Leben. Es gibt, vereinfacht ausgedrückt, somit auch kein Leben, das nicht Handeln wäre, denn alles, jeder Gedanke, existiert nicht in einer ausschließlich abstrakt-theoretischen Form, sondern immer auch als konkrete Gedanken-Handlung. In Bachtins Worten:
„Все действительно переживаемое переживается как данность-заданность, интонируется, имеет эмоционально-волевой тон, вступает в действенное отношение ко мне в единстве объемлющей нас событийности. Эмоционально-волевой тон – неотъемлемый момент поступка, даже самой абстрактной мысли, поскольку я ее действительно мыслю, т. е. поскольку она действительно осуществляется в бытии, приобщается к событию.“[190]
„Alles tatsächlich Erlebte wird erlebt als Gegebenheit-Aufgegebenheit, wird intoniert, hat einen emotional-volitiven Ton, tritt in eine wirkende Beziehung zu mir in der Einheit der uns umfassenden Ereignishaftigkeit. Der emotional-volitive Ton ist ein integrales Moment der Handlung, selbst des abstraktesten Gedankens, insofern ich ihn tatsächlich denke, d.h. insofern er im Sein tatsächlich umgesetzt wird und am Ereignis teilhat.“[191]
Juchananovs Zapiski lassen sich nun als Thematisierung dieser engen Verschränkung von „Gedanken“ und „Handlung“,[192] in Form der „Gedanken-Aufzeichnung“ lesen. Indem Juchananov bewusst keinen „Plot“, kein „Sujet“ auswählt, sondern das ständige, unkontrollierbare „Erleben“ zur Quelle seines Schreibens werden lässt, mit dem Ziel der Vermischung beider Größen („Leben“ und „(Auf)Schreiben“) scheint er Bachtins Diktum auffallend ernst zu nehmen. Bachtins Formulierung der Untrennbarkeit dieser beiden Pole zieht sich, in Abgrenzung von einer reinen Transzendentalphilosophie, wie ein Leitfaden durch dessen Frühwerk. Wenn alles „tatsächlich Erlebte“ konsequent als „Gegebenheit-Aufgegebenheit“ interpretiert wird, scheint die Form der ununterbrochenen Aufzeichnungen tatsächlich die adäquateste Realisierung zu sein. Insofern lässt sich Bachtins Theorie auch als Poetologie einer „direkten“ Form lesen, die Juchananov, wie bereits gezeigt wurde, in den frühen 1980er Jahren zunächst als Aufzeichnungs-Roman und später und in erweiterter Form als Technik und Poetik der Videokunst interpretierte.
Die Form der Momental'nie Zapiski ist allerdings streng zu unterscheiden von einem klassischen sujetgebundenen Narrativ, in dem das Tagebuch nur als äußere Form „benutzt“ würde. Um die hier eher vage vorgenommene Differenzierung zwischen „innerer“ und „äußerer“ Form näher zu beschreiben lässt sich etwa auf Bachtins Terminologie eines anderen frühen Artikels zurückgreifen, die er in „Проблема содержания, материала и формы в словесном художественном творчестве“ entwickelt. Bachtin unterscheidet hier zwischen „architektonischen“ und „kompositionellen“ Formen, wobei unter Architektonik das „эстетический объект в его чисто художественном своеобразии и структуру его“ zu verstehen ist. Dagegen bezieht sich der Begriff der Komposition auf die „структуру произведения, понятую телеологический, как осуществляющую эстетический объект“.[193] Zur Erläuterung eine Parallele aus Bachtins weiterem Werk: Eine dialogische Struktur, wie sie Bachtin im Schaffen Dostoevskis allerorten ausmacht, wäre somit eine architektonische Eigenschaft, die sich nicht unbedingt in der Komposition als Dialog (wie im Drama) niederschlägt. Gerade diese äußere, kompositionelle Form kann durchaus monologisch sein, dahingegen ist die innere, architektonische Form bei Dostoevskij, laut Bachtin durchwegs dialogisch.[194]
Es wäre demnach leicht möglich, die Form eines Tagebuchs oder der Aufzeichnungen als kompositionelle Form eines Werkes zu beschreiben – die Beispiele aus der Weltliteratur dafür sind zahllos, einer der ersten englischsprachigen Romane etwa, Daniel Defoes Robinson Crusoe, lässt sich als solche Komposition beschreiben. Die Architektonik dieses Werkes, allerdings, die rein künstlerische Eigenart, die emotional-volitive Aufladung, die Defoe seinem Material zukommen lässt, unterschiede sich nicht von dem gängigen Paradigma des modernen Romans, in dem der Autor als oberste Instanz eine gewisse Materialordnung präsentiert, die sich als Ganzes von jeder „Welterfahrung“ abhebt. Dem lässt sich Juchananovs Material gegenüberstellen – hier liegt auch auf der architektonischen Ebene ein Zugang vor, welcher der Ästhetik der (ständigen) Aufzeichnungen den absoluten Vorrang gegenüber der späteren formgebenden Komposition des Materials gibt. Es ließe sich also von einer Deckung der architektonischen und der kompositionellen Komponente sprechen, die beide dem Prinzip der Aufzeichnung unterworfen sind.
4.3 Fantasie und Synthese
In dem weiter oben zitierten Ausschnitt aus den Zapiski hat Juchananov darauf hingewiesen, dass das ständige Mitschreiben direkte Auswirkungen auf die Fantasie des Aufzeichnenden haben könnte. Um keinen falschen Eindruck zu erwecken, darf deshalb nicht unerwähnt bleiben, dass auch Elemente auftauchen, die zwar in einem Zusammenhang mit den direkten Aufzeichnungen der umgebenden Lebensrealität vorkommen, die aber nach den Regeln der Physik und allgemeinen konsensualen Weltwahrnehmung eindeutig als „Fantasie“ zu qualifizieren sind. Juchananov hat in dem Gespräch mit Sil'vestrov (vgl. Kap. III.2) deutlich darauf hingewiesen, dass seine literarische Technik der damaligen Jahre darauf abzielte, gleichzeitig die Realität, die dejstvitel'nost' als auch die Fantasmen (fantazii), die ihm gerade durch den Kopf schossen, aufzuzeichnen.
Im Falle der Zapiski soll hier das auffälligste dieser Fantasmen genauer behandelt werden: Es ist die Figur eines kleinen Drachen, des drakončik, der an verschiedenen Stellen des Romans in unterschiedlichen Funktionen und Kontexten auftaucht. Die erste Erwähnung findet sich in der Überschrift zum fünften Kapitel:
„Глава пятая, в которой на плацу появляется Дракончик, Шугуров продолжает нападки, придирки и провокации, Никита пишет басню-портрет о лейтенанте Мартынове и учится «преодолевать».“[195]
Was durch diese Ankündigung allerdings nicht klar wird: Der drakončik taucht zunächst innerhalb einer Geschichte auf, die sich Nikita für seine Tochter ausdenkt. Diese ist allerdings als solche bereits Teil einer Fantasie – aus den Aufzeichnungen lässt sich schließen, dass Nikita an seine Familie denkt, sich zu Frau und Tochter wünscht und sich vorstellt, bei ihnen zu sitzen und seiner Tochter eine Geschichte von einem kleinen Drachen mit einem Schwanz aus Kristall zu erzählen. Von nun an wird der Drache immer wieder auftauchen und in den Aufzeichnungen vom Armeealltag wie ein weiterer Charakter vorkommen. Er ist jedenfalls in der Realität, die Nikita beschreibt, vorhanden – was die Frage aufwirft, ob die von Juchananov getroffe Einteilung in dejstvitel'nost' und fantazii so leicht aufrechtzuerhalten ist. Der drakončik taucht immer wieder in Nikitas Gedichten auf und erhält somit motivischen Status. Dadurch, dass er zuerst innerhalb einer Geschichte (die in einer erträumten Realität erzählt wurde), aber mit Fortlauf der Aufzeichnungen auch vermehrt in den Passagen auftaucht, die den Anschein einer direkten Wiedergabe der „Armee-Realität“ haben, wird diese Figur zum Bindeglied dieser beiden Ebenen – jedoch ohne deren Beziehung überzeugend zu erklären.
Exemplarisch soll nun eine längere Sequenz aus den Zapiski detaillierter analysiert werden: Sie beginnt mit einem Satz, der aus einer klassisch narrativen Schauergeschichte stammen könnte:
„Туман бледными и недвижными сводами, громадного до необозримости замка царит над миром.
Я в клубе в партшколе. В комнате три человека - двое спят, развалившиеся в зелёных креслах; шапка у одного слезла на лоб, у другого скатилась на колени и покачивается в такт дыханию.“[196]
Der Erzähler sieht aus dem Fenster auf dem gegenüberliegenden Dachfirst eine Krähe sitzen, zu der sich plötzlich auch der drakončik gesellt. Der Dachfirst verwandelt sich in ein lebendendiges Pferdchen, in dessen Mähne sich der Drache festhält. In der anderen Hand hält er jedoch ein Buch. Der drakončik beginnt gymnastische Übungen und schleicht sich gemeinsam mit dem Pferdchen an die Krähe heran. In diesem Moment lehnt sich der Erzähler aus dem Fenster und ruft. Es entspannt sich ein Kampf zwischen Rabe, Pferdchen und drakončik, dessen Schönheit der Erzähler in Parenthese anerkennt. Das Buch fällt auf die Erde, und im Geschrei der Tiere, das ineinander übergeht, schlägt der drakončik mit einer Rute auf die Krähe ein. Pferd und Krähe verschwinden. Der drakončik sitzt wieder auf dem Dachfirst, als er plötzlich das in einer Pfütze liegende Buch bemerkt. Vorsichtig trägt er es hoch und kehrt auf das Dach zurück. Der Erzähler beobachtet ihn und macht eine verblüffende Entdeckung: „(Я едва успеваю прочесть название: «Моментальные записки»..“).[197] Der drakončik blättert weiter im Buch und ignoriert den Erzähler, der nach ihm ruft. Der Nebel wird wieder dichter, bis das Dach nicht mehr zu sehen ist.
Diese Episode lässt sich als eine geschlossene Miniaturgeschichte in der Umgebung der Zapiski beschreiben. Sie beginnt und endet im Nebel. Sie ist eine Fantasie, die sich mit den (vermutlich) real gesehenen Elementen der Krähe und des Dachfirsts und der Pfützen vermischt. Der drakončik tritt als narrativer Komplize in der Konstruktion der Zapiski auf. Er repräsentiert das Mögliche der Fiktion, die Fantasie, die immer wieder auf den Boden der Realität des Militäralltags zurückgeholt werden müssen. Die Tatsache, dass er das gleiche Buch liest, an dem Nikita gerade schreibt (und das wir gerade lesen) drückt diese Komplizenschaft sehr deutlich aus. Genauso wie er ein Charakter in der Welt und in der Geschichte ist, die Nikita schreibt, repräsentiert er gleichzeitig all die Einflüsse, die auch an den Aufzeichnungen mitschreiben, aber nicht kontrollierbar sind. Damit steht der drakončik auch für den Übergang zwischen Innen und Außen.
Dazu lässt sich eine kurze Sequenz zitieren, die, ohne jede weitere Einbettung, unkommentiert in den Aufzeichnungen steht, und einen ähnlichen Gedanken ausdrückt:
„Летающий Дракончик... Использовать как приём: летающий диалог (плавающий), портрет, зарисовку пейзажа... Роман-аквариум (перемещение рыбок)...“[198]
In der Figur des drakončik verdichten sich verschiedene architektonische Linien der Zapiski. Die Entscheidung zwischen Dokument oder Fiktion, die letztendlich nie getroffen wird, ist hierin präsent. Das seltsame Konglomerat der Zapiski lässt alle diese scheinbaren Gegensätze nebeneinander stehen.
Die Lektüre der Zapiski als Spiel zwischen den Polen von Fantasie, Kunst, Leben und Realität lässt sich durch die Analyse einer weiteren Sequenz verdeutlichen, die hier zunächst in voller Länge zitiert wird:
„1.12.80.
Писательство - это род сумасшествия, этакое жонглирование. Все время думать о блокнотике и одновременно с этим жить. Жить для того, чтобы жизнь эту укладывать в блокнотик. И весь смысл-то блокнотика в том, чтобы в жизни разобраться, но получается, что весь смысл жизни только в этом блокнотике и есть. Жонглируешь, остановиться не умеешь и обязательно в конце одно что-то уронишь – и освищут...
Луна рисует тени на снегу.
Рисовать на снегу
Я еще не могу
Не умею
Мне ли младенцу в этом соперничать с нею
Госпожа приручи меня таинством света и тени
Обучи языку облаков камней и растений
А иначе свихнусь
От людского жестокого шума
и не избавлюсь
От детского жалкого страха
Что быть может
И жизнь мою ОН для того лишь придумал
Чтобы дунуть потом
Да и сдуть ее
Горсточкой праха
А где киска наша Лариска? Уже неделю ни слуха, ни духа, ни мяука?“[199]
Zu Beginn der Sequenz werden ein weiteres Mal die Schwierigkeiten der Schriftstellerei verhandelt, auf deren medienspezifische Ausdruckschancen bereits hingewiesen wurde (vgl. Kap III.3.2). Der darauf folgende kurze Satz lässt tiefer greifende Analysen zu. Die Anspielung auf die Kraft der Natur, Schönheit zu schaffen erinnert an den von Kant beschriebenen Schauer angesichts „erhabener“ Naturphänomene. Im Kontext des vorhergehenden Absatzes steckt darin ein Vergleich mit den beschränkten Mitteln des Menschen (z.B. bloknotik) ebenfalls andauernde Kunst zu schaffen. Die beschreibenden und erschaffenden Kräfte des Menschen sind limitiert, wohingegen der Mond ohne großen Aufwand „Schatten in den Schnee zeichnet.“ Juchananovs Antwort auf dieses Dilemma ist jedoch ebenfalls bemerkenswert – sie nimmt die Form eines Gedichts an, das mit eben diesen Motiven spielt und als Referenz auf die Solov'ev’sche Suche nach der ewig weiblichen Weltseele (gospoža) gelesen werden kann.
Der abschließende Satz verdient ebenfalls nähere Beschreibung. Die hier erwähnte Katze Lariska ist ein wiederkehrendes Element der Erzählung und kann als Gegenstück zum drakončik interpretiert werden. In der Narration der Zapiski ist sie Spielgefährtin der Soldaten und willkommene Abwechslung im Alltag. Ein wiederholt auftauchendes Motiv der Aufzeichnungen ist jedoch der kolportierte Tod dieser Katze – mehr als einmal notiert Nikita ihr Ableben, weil sie bereits für einige Zeit verschwunden ist, doch sie taucht immer wieder auf. Im Gegensatz zu der fantazija des drakončik repräsentiert die Katze das Natürliche, das jedoch dadurch immer an der Schwelle des (natürlichen) Todes steht.
Diese Linien werden nun in einem kurz darauf folgenden Absatz zusammengeführt. Der drakončik, die Katze und die Literatur, repräsentatiert durch Tolstoj, vermischen sich in der Synthese der Aufzeichnungen:
„На плацу - зеркала черноспинные друг в друга глядятся. И в них во всех, жалостливо мяукая, киса - Лариска замерзает посреди снега. И тогда Дракончик скидывает с себя личину мою и бросается к ней отогревать и гладить, и ласкает, и греет ее... И читает ей Толстого Льва Николаевича про радость Левина и очищение Каренина. И приговаривает: «Ведь это он им свои самые сокровенные чувства отдал... свои! И мне и тебе киска малая, и всем!» И Лариска мяучит в полусне - комочком у него на груди. И Дракончику хочется плакать от этого нежного вздрагивающего под тонкой шерстью тельца, и он летит в Ленинград плакать...“[200]
Die Tolstoj zugeschriebene Formulierung des Herausgebens der innersten Gefühle wird somit zum Leitspruch des ganzen Zapiski-Projekts. Im Gegensatz zur Hegel’schen „Aufhebung“ der Gegensätze wird hier ein Teilen derselben formuliert. Es ist bezeichnend, dass dieser Abschnitt weder programmatisch am Anfang noch zusammenfassend am Ende des Textes steht, sondern ohne spezifische Markierung in der Mitte. Dazu ein weiteres Mal Deleuze und Parnet:
„Von Interesse ist [...] niemals Anfang oder Ende, beides sind Punkte. Was zählt ist das Dazwischen. Angefangen wird mittendrin.“[201]
5. (Un)Mögliche Erzählung
In diesem letzten Kapitel, das sich direkt mit den Zapiski beschäftigt, soll die eben gestellte Frage nach der letztlich vielleicht doch möglichen Synthese der Erzählung vertieft werden. Zunächst verweigert sich Juchananovs Aufzeichnungsroman klar einer einfachen Erzählstruktur. Eine Leserin, die auf der Suche nach einem kohärenten Erzählfluss ist, wird mit sprunghaften Übergängen konfrontiert, die mit der rhetorischen Figur des Non-Sequitur in Verbindung gebracht werden können. Auf der anderen Seite finden sich im Fluss der Aufzeichnungen doch wiederholt in sich abgeschlossene, eingrenzbare Erzählsequenzen. Damit stellt sich die Frage, ob die scheinbar ungeregelten, „direkten“ Aufzeichnungen des Lebens trotz allem als narrativen Strukturen entsprechend beschrieben werden können. Literarische Konventionen hätten demnach einen präfigurierenden Anteil an der Aufzeichnung und Wiedergabe der nicht medialisierten „Erfahrung“.
Der Großteil der Sequenzen aus den Zapiski in ihrer scheinbar nur durch das strukturelle Diktat der fortschreitenden Zeit legitimisierten Abfolge, entwickeln sich nicht auf einen klar erkennbaren narrativen Punkt hinaus. Es scheint eher das Non-Sequitur des „echten“ Lebens zu dominieren, Anschlüsse ohne interne Kohäsion. Als längeres Beispiel sei hier auf eine Sequenz verwiesen, die ein Gespräch zwischen mehreren nicht näher benannten Soldaten transkribiert:
„- Слушай, а пауки жрут друг друга?
- Пауки? Жрут.
- Точно?
- То-о-очно, даже вот самка, после того, как её самец натянет, сжирает его - и такие есть.
- Никита! А ты был в болшом тятрэ?
- Да.
- Сколько раз?
- Ну, раза четыре.
- И что там показывали, балет или оперу?
- И то и другое.
- Красиво, да?
- Да.
- А чем балет отличается от оперы, а?
- А в прошлом году, да, зимой поехали торф развозить, лёд был. Я мужика взял подвести. Мне надо прямо, а ему налево, пока доехали там до места, он мне...“[202]
Zunächst zeigt diese Sequenz noch die Logik und Kohärenz eines Gesprächs im realen Leben, denen folgend die Nahrungsgewohnheiten von Spinnen besprochen werden. Ein erster Bruch in der Logik, ein Gedankensprung, ist zu sehen, als Nikita nach dem bol'šoj teatr (typographisch den kaukasischen Akzent eines Kameraden wiedergebend) gefragt wird, worauf sich ein kurzer Austausch darüber ergibt. Auf die Frage nach dem Unterschied zwischen Ballet und Oper folgt jedoch eine völlig andere Aussage, eine Erzählung eines Kameraden über sich selbst. Weder ist klar, wer hier spricht, noch in welchem Zusammenhang diese Äußerung zu dem vorherigen Gespräch stehen sollte.
Es ist durchaus vorstellbar, dass dieses Gespräch in der Realität der frühen 1980erJahre von Juchananov inklusive dieses logischen Bruchs aufgezeichnet wurde. In dem gegenwärtigen Kontext des Romans wird diese „natürliche“ Lücke im Gespräch jedoch unweigerlich zur literarischen Technik des Non-Sequitur umcodiert. Die literarische Konvention würde nun vom Autor der „Gesamtäußerung“ der Zapiski erwarten, diesen Bruch zu erklären, zu rechtfertigen oder zumindest als solchen erkennen zu geben, als gewolltes Stilmittel, wohl in der Absicht eine gewisse „Direktheit des Ausdrucks“ zu erzeugen und eine dementsprechende Wirkung bei den Lesern zu erzeugen. Doch nichts dergleichen geschieht. Diese Sequenz bleibt wie viele andere unkommentiert. Das Non-Sequitur ist eher Regel als Ausnahme, aber es ist kaum möglich, die literarische Rechtfertigung dafür zu finden, die man konventionell erwarten würde.
Im Gegensatz dazu stehen andere Sequenzen aus den Zapiski, die einer gewissen „literarischen“ Dramaturgie deutlich entsprechen. So wird über mehrere Kapitel hinwegein Machtkampf zwischen Nikita und einem staršij seržant namens Šugurov beschrieben. Als Teil davon die folgende Episode:
„Шугуров:
- Аэтоокновымыл, Ильин?
- Да нет еще!
- А почему?
- Ну, вы же сами сказали: хорошенько все вымыть и замазать.
- Будешь ночью работать!
- Ночью запрещено.
- Ильин, ты наглая салага!
И ушел. Вот такой он парень, Шугуров...“[203]
Die Sequenz hat unbestreitbare komische Qualität. In ihrer Struktur erinnert sie an ein klassisches Lustspiel-Szenario: Ein Vorgesetzter mit einem Surplus an Macht, aber einem Defizit an Intelligenz ausgestattet, wird von einem Untergebenen, der zwar faul, aber gewitzt ist, bloßgestellt. Diese Entlarvung verläuft anhand sprachlicher Mittel, derer sich der Untergebene genauer und gezielter zu bedienen weiß als der Vorgesetzte, indem er es schafft, dessen eigenes Verbot (in der Nacht ist es verboten zu arbeiten) gegen ihn zu kehren und für sich selbst auszunutzen. Die Reaktion des Vorgesetzten (naglaja salaga!) könnte in eben dieser Form auch den Schlusssatz einer komischen Szene bilden.
Doch es geht noch kürzer. Ein Eintrag aus den Aufzeichnungen liest sich schlicht:
„Скамейку выкрасили. Сел. Прилип – смех.“[204]
Die Essenz einer kleinen Lustspiel-Dramaturgie liegt in diesen fünf Worten. Es ist eine Kürzesterzählung mit dramatischem Aufbau und einem klaren kathartischen Ende.
In seinem narratologischen Hauptwerk Zeit und Erzählung weist Paul Ricœur auf ähnliche Umstände hin. Einer der Grundansätze seiner Überlegungen ist, sich nach der Natur der menschlichen Zeiterfahrung zu fragen. Seine These besteht darin, dass es nur durch Erzählen möglich ist, eine Position zum Phänomen der Zeit einzunehmen, weil „die Spekulation über die Zeit eine nichtabschließende Grübelei ist, auf die nur das Erzählen eine Antwort gibt.“[205] Ricœur betont unser Angewiesensein auf Techniken der Erzählung, um Zeiterfahrung überhaupt zu entwickeln. Dementsprechend geht er davon aus, „dass die Zeit in dem Maße zur menschlichen wird, in dem sie sich nach einem Modus des Narrativen gestaltet, und dass die Erzählung ihren vollen Sinn erlangt, wenn sie eine Bedingung der zeitlichen Existenz wird.“[206] Der einzige Weg, um eine Vergangenheit und eine Zukunft greifbar zu machen und dadurch erst ein Konzept von Gegenwart herauszubilden, ist, zur Zeit und damit zum Leben die Haltung eines Erzählers einzunehmen. Genauso wie demnach das Erzählen die Lebenswahrnehmung strukturiert, ist gleichzeitig auch jede Erzählung von dieser Zeitwahrnehmung beeinflusst: Ricœur beschreibt demzufolge eine gegenseitige Durchdringung von Zeit und Erzählung. Ein wichtiges Strukturmerkmal dieser Durchdringung ist die Fabelkomposition:
„Die Fabelkomposition ist bereits ein Hervortreiben des Intellegiblen aus dem Akzidentiellen, des Universellen aus dem Vereinzelten, des Notwendigen oder Wahrscheinlichen aus dem Episodischen.“[207]
Es ist genau dieser Drang zur Formung, der sowohl unsere Lebensführung beeinflusst, als auch, wie wir unsere Geschichten erzählen. Noch vor der Frage nach Fakt oder Fiktion diagnostiziert Ricœur die Formung der Narration, die mit der Lebenswahrnehmung in ständigem reziproken Austausch steht.
Auch wenn diese Frage wohl im Rahmen dieser Arbeit nicht geklärt werden kann, lässt sich doch darauf hinweisen, dass Juchananovs Aufzeichnungen auf eine ähnliche Aussage hin gelesen werden können. Er beantwortet nicht die Frage nach der Vorgängigkeit von entweder Leben(szeit) oder Erzählung, sondern lässt in den Aufzeichnungen die Möglichkeit der eng verflochtenen Interdependenz beider Größen offen. Das Non-Sequitur des Lebens und die Pointe der Erzählung liegen unkommentiert und unkategorisiert eng nebeneinander in der Ganzheit der Zapiski.
Zum Schluss muss nun noch auf eine Episode eingegangen werden, die all diese Größen und Überlegungen ein weiteres Mal kritisch verknüpft und in sich eine Möglichkeit der Lektüre der Zapiski enthält. In dieser Sequenz verdeutlichen sich die Schwierigkeiten der Verbindung von Kunst und Leben, Aufzeichnung und Realität einerseits auf der Ebene der Narration, andererseits auch auf der Diskursebene der Gemachtheit der Aufzeichnungen.
Wie bereits erwähnt (vgl. Kap III.4.1), haben die Kapitelüberschriften besondere Beachtung verdient. Es wurde argumentiert, dass sie eine Lesart der Aufzeichnung als Entwicklung hin zum „Künstler-Werden“ bedingen. In dieser Funktion geben sie immer eine kurze Zusamenfassung und damit auch Interpretation der folgenden Aufzeichnungen und kombinieren dadurch verschiedene Handlungsstränge. Das vorletzte, neunzehnte Kapitel unterscheidet sich nun dahingehend, dass in der Kapitelüberschrift nur auf ein einziges „Ereignis“ rekurriert wird:
„Глава девятнадцатая, в которой на Никиту обрушивается громадное несчастье.“[208]
Einerseits kann diese Besonderheit als Hinweis gelesen werden, dass das folgende Kapitel sich vermehrt den literarischen Konventionen einer geschlossenen, kohärenten Erzählung beugen wird. Andererseits steht gerade hier, wie wir sehen werden, der Akt des Mitschreibens im Zentrum und verbindet somit wieder die bekannten Größen: Schreiben wird Teil der Erzählung und des Lebens.
Das Kapitel verknüpft nun das, was man als Nikitas Privatleben bezeichnen könnte, mit den Funktionsweisen seiner Aufzeichnungen. Nikitas Frau, Nasten'ka, kommt zu Besuch, es entspannt sich ein Gespräch, das letztendlich zur Trennung der Beiden führen wird. In diesem gesamten Gespräch spielen jedoch Nikitas parallele Aufzeichnungen fast die Rolle eines dritten Gesprächspartners. Sie werden wiederholt angesprochen und strukturieren den Verlauf des Gespräches:
„9.8.81.
Сидим с Настенькой под насыпью в железнодорожной в траве.
- Понимаешь, (тыкает меня колоском в штанину) может, мне просто кажется, но…
- Так что ты говоришь «но», Настен? (Смехнулась.)
- Ты не дописал… Ну… Пиши, пиши, меня это не отвлекает.
Оперлась на ладошку. Колосок мотается, слабо прижатый к щеке. Чуть покачивается сама, молчит. Смотрю в нее, чуть покусывая стержень. Смотритвменя, улыбается, грустная.“[209]
Die Sequenz zeigt, deutlich wie kaum eine andere, die gegenseitigen Verflechtungen. Das „aber“, das Nasten'ka ausspricht, irritiert Nikita, es deutet bereits die Trennung an. Bevor sie jedoch erklären kann, wartet sie darauf, dass Nikita seine Aufzeichnungen dessen, was sie gerade sagt, zu Ende führen kann – es stört sie auch nicht (menja ėto ne otvlekaet).
„- Ни-и-икита?
- Что-о-о?
- Ты слышал, что я говорила? Почему ты молчишь?.. И еще я хочу тебе сказать… Не очень приятную вещь хочу тебе сказать…
- Ну, скажи.
- Я жду, когда ты мне ответишь. Никита, ну когда ты мне ответишь?
- Не-ет, ты вначале мне все скажи.
- Ты, знаешь, что… Ну, ты когда напишешь, я тебе скажу, после того, как ты напишешь… Никита…
- Ну, скажи, ну, скажи, ну, что, что?
- Подожди. Не торопи ты меня. Как ты считаешь, я тебе должна говорить все? А ты мне? Почему так скрывают, врут, берегут друг друга? А может не надо?
- Надо. Настенька, ты должна мне все говорить, я ведь и так все знаю.“[210]
Das Mitschreiben ist ein ständiger Aufschub.[211] Das Schreiben ist kein Problem für Nasten'ka, aber es ist ein Phänomen der Verschiebung des Lebens. Die Szene stellt die Frage, ob Nikita eher seiner Frau oder den Aufzeichnungen zugewandt ist, worin auch eine weitere Formulierung des bekannten Gegensatzes Leben (Frau) und Kunst (Aufzeichnungen) formuliert ist. Ob gewollt oder nicht, werden die Aufzeichnungen zum differenzierenden, aufschiebenden, distanzierenden, hinterfragenden Faktor. Die Passage, die auf das Gespräch folgt, kann als dessen Verarbeitung mit bereits vorgestellten Mitteln und Motivenbezeichnet werden:
„Сейчас я сижу в классе, который нам предстоит с Андрюхой делать. Вот только что затих дождь. Серо все. Лужи на плацу. А Дракончик сидит в луже, промокший, шерсть обвисла. Мутит лапой поверхность черной воды. А потом вглядывается, словно что-то хочет увидеть в несуществующей глубине. Холодноипусто. Холодно.
Дождь.“[212]
Der drakončik fungiert als Spiegel des Gemütszustandes, als Thema und Wiedergabe der Seele gleichzeitig. Im Anschluss daran steht wieder ein Gedicht, in dem Themen der Trennung und des Schmerzes das Leitthema bilden.[213] Auf die Vermischung von Kunst und Leben durch das ständige Mitschreiben des schmerzhaften Trennungsgesprächs zwischen Nikita und Nasten'ka folgt die sofortige Weiterverarbeitung mit literarischen Mitteln. Die Synthese von Kunst und Leben wird ein weiteres Mal durch Handeln im und durch das Wort, Leben in und durch das Schreiben erzeugt. Die Möglichkeit der Erzählung ist mit dem Willen zum Leben vermengt.
Die Unmöglicheit der klaren Trennung von Kunst und Leben ist hier ein weiteres Mal formuliert. Aber genau darin läge, mit Deleuze und Parnet gesprochen, auch der Anspruch der Literatur:
„Anders wiederbeginnen dagegen heißt, die unterbrochene Linie wiederaufnehmen, der brüchigen Linie ein weiteres Segment hinzufügen, sie zwischen zwei Felsen, durch einen Engpaß sich hindurchwinden lassen, oder sie über die Leere hinwegführen, da, wo sie gestoppt worden war. Von Interesse ist dabei niemals Anfang oder Ende, beides sind Punkte. Was zählt ist das Dazwischen. Angefangen wird mittendrin.“[214]
In diesem Sinne lässt sich auch das letzte Kapitel der Zapiski verstehen. Es beschreibt gleichzeitig Ende und Neubeginn. Nikitas Trennung von seiner Frau geht in die Beschreibung von Erlebnissen über, die bisher keinen Platz in den Zapiskig efunden haben – Musikabende, Dichterlesungen, Diskussionen in Moskau. Damit ist bereits angedeutet, dass Nikitas Existenz als Aufzeichner zu Ende geht, jedoch keinen narrativen Abschluss findet. Wie das Ende der letzten Kapitelüberschrit andeutet („[Никита] уходит в последнюю самоволку и…“)[215] ist der Zeitpunkt des Aussteigens auch nichts anderes als ein Zufall. Die drei Punkte („...“) deuten die potentielle Unendlichkeit an, werden jedoch noch einmal gebrochen, denn die Aufzeichnungen enden nicht mit dieser Überschrift, sondern dauern noch bis zu einem gewissen Punkt an, um schließlich mit einer Notiz über die Dicke von Holzbrettern abrupt zu schließen.
Werden endet niemals. Durch das Schreiben der Aufzeichnungen haben allerdings Leser Teil daran.
IV. Leben. Gemeinschaft
1. Werk und Kommentar
In diesem Kapitel wird als vorläufig letzte Deutung des „Schreibens im Werden“ der Frage nachgegangen, welche Konzeptionen von Gemeinschaft im Zusammenhang des Juchananov’schen Schaffens beschrieben werden können und welche Konsequenzen sich durch dieses Schreiben der Gemeinschaft ergeben könnte.
Fast jedes einzelne Projekt Juchananovs lässt sich als Fragestellung in Bezug auf eine mögliche Gemeinschaft verstehen. Das fängt bei der Identität des Künstlers selbst an – die Frage nach der Identifizierung mit gewissen kultuellen Strömungen wurde bereits im zweiten Kapitel aufgeworfen und kann nun anhand der Frage nach der Zugehörigkeit zu spezifischen Gemeinschaft vertieft werden. Dafür stellvertretend soll ein weiteres Mal auf das Projekt ЛабораТОРИЯ hingewiesen werden. Grigorij Zel'cer, neben Juchananov künstlerischer Leiter, hat dessen Grundphilosophie im Gespräch mit dem Verfasser dieser Arbeit folgendermaßen formuliert:
„Klassisch ist ja die Vorgangsweise, dass ein Kollektiv zusammenkommt, zu einer gewissen einheitlichen Analyse des Stückes gelangt und nach dieser Auswahl kommt dann die Handlung. Bei uns ging es ein bisschen anders vor sich: Jeder Einzelne kann zu seiner eigenen Analyse kommen, die dann nebeneinander unter einem gewissen einheitlichen thematischen Feld existieren.“[216]
Dieses „Nebeneinander“ ist für die künstlerische Praktik Juchananovs repräsentativ, wie wir im Vorfeld herauszuarbeiten versucht haben. Gleichzeitig ist dabei auch die Frage nach Kollektiv und Gemeinschaft bei der Erarbeitung eines künstlerischen Textes aufgeworfen. Die Tatsache, dass hier, wie so oft in Juchananovs Schaffen (man denke an die dauny beim Сад-Projekt), mit „Laien“, mit an sich nicht Kunstschaffenden, intensiv gearbeitet wird, deutet darauf hin, dass Juchananov künstlerische Praxis als über den Zirkel der bereits im Voraus Eingeweihten hinausgehend versteht. Allerdings soll damit nicht gesagt sein, dass seine Werke als leicht zugänglich und jedermanns Verständnis sofort offen beschrieben werden könnten, ganz im Gegenteil. Die meisten theatralen Produktionen und Texte erschaffen eine vergleichsweise hermetische Welt, die sich erst nach intensiverer Beschäftigung oder durch Kenntnis bestimmter kultur- und kunststpezifischer Codes der Reflexion eröffnet. So drückt es etwa Gleb Alejnikov, Mitbegründer der Zeitschrift SineFantom und langjähriger Weggefährte von Juchananov in einer Sondernummer seiner Zeitschrift anlässlich der Premiere von Сверлийцы im Dezember 2012 folgendermaßen aus:
„Есть язык, который принадлежит определенному сообществу, хочется с помощью этого языка говорить. [...]. Я понимаю, что никто не хотел меня поразить, испугать, эпатировать — просто подарить прекрасное, возможно понятное немногим, но мне абсолютно понятное произведение, высказывание.“[217]
Deshalb ist wichtig, den Begriff der Gemeinschaft hier zu differenzieren. Ein Zusammenhang zwischen Werden und Schreiben im Hinblick auf die Gemeinschaft lässt sich in Verbindung mit den Theorien des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy herstellen. 1986 veröffentlicht er einen Aufsatz, der wenig später als Die undarstellbare Gemeinschaftauf Deutsch übersetzt erscheinen wird, und in dem Nancy die gängige Konzeption dieses Begriffshinterfragt. Die philosophische und soziale Tradition würden sich, so Nancy, auf die Suche nach einer einer „ursprünglichen“ Gemeinschaft begeben, um mit den Mängeln einer gewissen aktuellen „Gesellschaft“ umzugehen. Diese Ansätze sind deshalb zum Scheitern veruteilt, weil sie von einer Erreichbarkeit dieser „ursprünglichen“ Gemeinschaft ausgehen. In diesem Punkt gleichen sich die faschistische Verschmelzung in der einen Volksgemeinschaft, die kommunistische Internationale wie auch verschiedene post-totalitäre demokratische Projekte. Sie scheitern, weil sie die Gemeinschaft immer nur in Hinblick auf ihre Verwirklichung, als Werk, als Projekt sehen. Ein Projekt, das vollendbar und abschließbar wäre, und von dem man „Allmacht und Allgegenwart [...], Souveränität und Intimität, Selbstgegenwart ohne Bruch und ohne Außen“[218] erwarten würde. Institutionen und Interessensgemeinschaften besetzen, laut Nancy, genau diesen Wunsch, diese Leerstelle mit einer fertigen, vollendeten, „verwerkten“ (ouvré) Idee von Gemeinschaft.
Nancys Reaktion auf diese Konzeption von Gemeinschaft ist ablehnend:
„Eine Gemeinschaft ist weder ein Projekt, das eine Verschmelzung intendieren würde, noch allgemeiner gesehen, ein auf ein Produkt oder Werk zielendes Projekt – sie ist überhaupt kein Projekt.“[219]
Im Gegensatz dazu versucht Nancy an einen Gemeinschaftsbegriff anzudocken, der grundsätzlicher ist als die Verbindung durch ein gemeinsames „Werk“. Im Zuge dessen bringt er den Begriff des gemeinsamen Raums ins Spiel:
„Die Gemeinschaft ist weder ein herzustellendes Werk, noch eine verlorene Kommunion, sondern der Raum selbst, das Eröffnen eines Raums der Erfahrung des Draußen, des Außer-Sich-Sein.“[220]
Nancy drückt damit aus, dass es nicht um eine gemeinsame Substanz geht. Es gibt für ihn kein Band, das individuelle Subjekte miteinander verbindet und das in irgendeiner Farbe (des Volkes, der Religion, etc.) gefärbt wäre. Gemeinschaft ist das Teilen des Nichts, das Teilen des Raums dazwischen. Sobald eine Gemeinschaft diesen Ganzheitsanspruch formuliert, sich als fertig ansieht, hat sie bereits ihre ursprüngliche Legitimierung als „Mit-Sein“ verloren und ist in einer Reihe mit nationalistischen oder ideologischen Gemeinschaften abgerutscht.
Deshalb scheint es so wichtig zu sein, hier die Juchananov’schen Gemeinschaften zwar auf ein (künstlerisches) „Werk“ bezogen, aber nicht als verwerkt im Sinne Nancys zu beschreiben. Juchananovs künstlerische Praxis schafft mit jeder neuen Äußerung, mit jedem künstlerischen „Werk“, eine neue Gemeinschaft, mit der eine gewisse Codifizierung und Reglementierung einhergeht, die sich erst durch intensive Beschäftigung erschließen. Allerdings stellt dies ebenso die Existenz einer vorher bestehenden, als selbstverständlich genommenen Gemeinschaft in Frage. Damit soll nicht gesagt sein, dass etwa ein Theaterprojekt als Aussage in Richtung einer gewissen Gesellschaftstheorie vestanden werden muss. Juchananovs Interesse gilt nicht der Soziologie, sondern der konkreten künstlerischen Praxis. Trotzdem sind Aussagen, wie sie etwa zum Сад-Projekt und der Rolle des „Mythos“ (mif) darin getroffen werden, (etwa wie: „на территории перформанса, и будут обнаружены новый миф и новые ритуалы“)[221] auch als eine Verhandlung der Praktiken einer speziellen gesellschaftlichen Anordnung zu verstehen. Der Mythos (in diesem Fall etwa von Čechovs Texten) führt in der kulturellen wie sozialen Alltagspraxis ein unreflektiertes Eigenleben. So setzt z.B. die Teilnahme an einer sowjetischen kulturellen Theatergemeinschaft einen gewissen Umgang mit Čechovs Theatertexten voraus. Das muss nun keineswegs eine reine Affirmation sein, oder die Privilegierung einer bestimmten Art, Čechov zu spielen. Aber die Position der Texte als kulturelle Instanz selbst ist so gefestigt, dass sie als gemeinschaftsstiftender Mythos nicht mehr hinterfragt wird.
Deshalb lässt sich Juchananovs Anliegen, in der Beschäftigung mit dramatischen Texten diesen Status zu problematisieren und in der aktiven Arbeit mit Theater-Performances einen neuen Mythos zu schaffen, direkt mit der Frage nach der Gemeinschaft kurzschließen. Sowohl im Сад-Projekt, als auch bei ЛабораТОРИЯ erschließt sich dieses Verständnis durch ein besonderes Mittel der Kontaktaufnahme, des Dialogs mit dem Text – durch den Kommentar. Dieses Vorgehen beschreibt Juchananov in einem Interview wie folgt:
„Я понимаю комментарий сегодня не просто как систему рефлексий, сопровождающую бытие: комментарий сегодня, собственно, и есть та форма созидательного «терроризма», с которым хочет и должна иметь дело современная культура.“[222]
Der Kommentar ist somit als Möglichkeit beschrieben, sich selbst in Position zum Text zu bringen. Damit ist er auch Voraussetzung für die Ausbildung einer Gemeinschaft, wie sie etwa Zel'cer in der oben zitierten Äußerung beschreibt: Dadurch, dass jede an einem gewissen kulturellen Ereignis teilhabende Person die Möglichkeit zum Kommentar erhält, kann sie sich in das Ereignis einbringen, gibt jedoch nicht ihre Singularität auf, um im Mythos einzugehen. Vielmehr schafft sie ein neues Ereignis, eine neue Gemeinschaft, einen neuen Mythos, in der verschiedene Individuen „nebeneinander unter einem gewissen einheitlichen thematischen Feld existieren.“[223] Dies entspricht auch dem Gemeinschaftskonzept, das Nancy stark zu machen versucht:
„Gemeinschaft hat kein gemeinsames Sein, keine gemeinsame Substanz, sondern besteht im Zusammensein. Ausgangspunkt ist ein Teilen, aber das Teilen wovon? Das Teilen von nichts, das Teilen des Raums dazwischen.“[224]
Genau das Zusammensein, das Teilen des Raums, der sowohl ein geographischer als auch ein kultureller sein kann, lässt sich als Kernthematik der meisten Arbeiten Juchananovs nennen. Die Kommunikation in diesem geteilten Raum läuft über die Technik des Kommentars, des gegenseitigen respektvollen Austausches, der aber nicht im Aufgehen in einer Gemeinschaft endet. Paradigmatisch dafür lässt sich die Einbindung von am Down-Syndrom Erkrankten im Rahmen des Сад-Projektes anführen. Juchananov verweigert sich bewusst, sie in dem Sinne als „gleichwertig“ zu betrachten, als ob sie die gleiche Weltwahrnehmung wie „alle anderen“ hätten. Statt dessen weist er ihnen einen Status als Lebewesen zu, die er in Anspielung auf Čechovs Text Вишневый сад als sadovye suščestva bezeichnet, „живущих в тотальном счастье, не имеющих ничего от человека, кроме интереса к человеку.“[225] Diese grundsätzliche Differenz, die sich nicht im Konsens auflösen lässt, und damit nicht die unterschiedslose Gemeinschaft aller menschlichen Individuen proklamiert, gesteht den dauny die Möglichkeit eines sehr spezifischen Kommentars zu. Daraus erklärt sich auch der Name des Projekts: Дауны комментируют мир. Ohne das Projekt in seiner ganzen Tragweite hier vorstellen zu können, soll nur darauf hingewiesen werden, dass dieser Kommentar unter anderem direkt über künstlerische Medien stattfindet. Im Videofilm Неуправляемый ни для кого besprechen Personen mit Down-Syndrom religiöse Darstellungen in einem Museum und geben ihre Erklärungen und Deutungen biblischer Erzählungen ab. In der Einheit dieses Films stehen diese Aussagen gleichberechtigt neben den künstlerischen Darstellungen im Rahmen des Museums und treten damit durch den gegenseitigen Kommentar des religiösen Mythos in Austausch, in Dialog.
Diese dialogische Kommentar-Struktur existiert auch innerhalb der verschiedenen Projekte zwischen den künstlerischen Formen. Im Falle des ЛабораТОРИЯ stehen etwa die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Talmud-Texten und die schauspielerische Beschäftigung, die spielerische Improvisation dazu, in gegenseitigem Austausch. Juchananovs jüngstes Projekt, der Сверлийцы-Zyklus verbindet nun die Form des Romans mit der Oper (dementsprechend roman-opera) und lässt diese beiden Darstellungsformen sich gegenseitig kommentieren, um einem uralten, umfassenden Gemeinschaftsmythos, den Juchananov darstellt, gerecht zu werden, auf den im Folgenden noch eingegangen wird.
2. Staat und Zivilisation
In Kapitel III. 2 wurde bereits von der Artikulation der Aufzeichnungen vor dem Hintergrund einer gewissen literarischen Tradition gesprochen. Das Bewusstsein, Erbe einer literarischen Genealogie zu sein, lässt Nikita, den Helden der Zapiski, als Teil einer ebensolchen Gemeinschaft erscheinen. Das Motiv einer übergreifenden kulturellen Gemeinschaft ist in Juchananovs jüngster Arbeit, der „Roman-Oper“ Сверлийцы zur Beschreibung einer ganzen Kultur ausgearbeitet, die sich parallel zu menschlichen entwickelt und verschiedene (vor allem kunstbezogene) Berührungspunkte aufweist. Juchananov argumentiert eine ganze Zivilisation, die gleichzeitig Nährboden und Spiegel einer realen Weltkultur ist.
Einige Überlegungen zu diesem Projekt sollen nun im Zusammenhang der Rolle des Staates diskutiert werden. Dabei beziehe ich mich auf Boris Groys‘ Deutung der Sowjetunion in Das kommunistische Postskritpum. Seine Beschreibung des Sowjetstaates kann als Antithese zu Juchananovs Skizze der Kultur von sverlija aufgefasst werden.
In seiner Lektüre des kommunistischen Staates setzt Groys sein Argument mit der Platon’schen Wiedergabe der sokratischen Dialoge an. Der „Philosophenstaat“, der dort skizziert wird, liefert für ihn die Blaupause eines späteren sowjetischen Staates. Die Grundlage dafür liegt in der Rolle des Philosophen im Laufe dieser Gespräche und in seinem Verhältnis zu den Gesprächspartnern. In Groys‘ Deutung dienen die sokratischen Dialoge nicht dem Zweck der Wahrheitsfindung oder der Fabrikation einer „widerspruchsfreien Rede“. Vielmehr geht es darum,auf den paradoxen Charakter der Rede der anderen, der Sophisten, hinzuweisen:
„Es genügt also vollkommen, das verborgene Paradox aufzuzeigen, freizulegen, zu offenbaren, um die nötige Evidenz entstehen zu lassen. Die weitergehende Erzeugung einer widerspruchsfreien Rede erübrigt sich.“[226]
Darin erschöpft sich bereits die Aufgabe des Philosophen, die Groys hier skizziert. Eben dadurch, dass keine widerspruchsfreie Rede (die aufgrund dessen immer partiell bleiben muss) angestrebt wird, sondern das Paradox angenommen wird, sieht Groys es nur dieser Art von Diskurs möglich, das „Ganze“ zu denken. Darin sieht er Anknüpfungspunkte zum Diskurs des dialektischen Materialismus, was ihn zu der folgenden Aussage befähigt: „Die Sowjetunion hat sich in der Tat als einen Staat verstanden, in dem allein die Philosophie regiert.“[227]
Damit ist für Groys der sowjetische Staat auf einer ständigen inneren Opposition aufgebaut. Angewandtes dialektisches Denken bedingt für ihn eine totalitäre Sprachregelung. Die Begriffe „dialektisch“, „total“ und „paradox“ fallen in dieser Lesart zusammen. Eine Staatsgemeinschaft kann nur dann umfassend sein, wenn sie von jeder möglichen Äußerung auch das Gegenteil mitdenkt. Ebenso wie das paradoxe Denken des Philosophen Evidenz erzeugt, bringt das dialektische Denken des Staates die totale Macht über seine Mitglieder hervor:
„Die Hauptforderung an den sowjetischen Menschen bestand also nicht darin, sowjetisch zu denken, sondern gleichzeitig sowjetisch und antisowjetisch – und somit total zu denken.“[228]
Dadurch ist wird die innere Gespaltenheit zu einem Grundzug der kommunistischen Gemeinschaft. In diesem Sinne lassen sich auch die wiederholten Richtungswechsel der Partei, die inneren „Säuberungen“ der stalinistischen Ära erklären, da sie nichts anderes als die Äußerung dieser inneren Opposition darstellen. Die Utopie des sowjetischen Kommunismus liegt also in Groys‘ Lesart darin, dass eine Philosophenherrschaft des Wortes ohne Rücksicht auf andere Umstände realisiert wurde.
Die absolut friedliche Kultur in sverlija, die Juchananov beschreibt, kann deshalb auch als Gegenmodell zu dem eben skizzierten Entwurf betrachtet werden:
„Сверлия — это мирная цивилизация. Там принципиально нет полемик и оппозиций, в Сверлии они снимаются и исчерпываются самим актом дыхания ее обитателей. Этацивилизацияединавмножествесвоихпроявлений.“[229]
Was zunächst wie eine gängige Beschreibung einer konfliktlosen Utopie klingt, erhält durch die Gegenüberstellung zu Groys‘ historischem Entwurf der Sowjetunion zusätzliche Bedeutung. Juchananov versucht, im Gegensatz zu der inneren Zerrissenheit, die Groys argumentiert, eine synthetische Betrachtung verschiedenster Phänomene einer gewissen globalen Kultur als Werk eines Mythos zu beschreiben. In dem eben zitierten programmatischen Text zum sverlija-Universum nennt Juchananov verschiedene real existierende Orte und kulturelle Phänomene als Austausch- und Übergangspunkte zur Welt der sverlijcy. So ist etwa das reale, heutige Venedig ein Verbindungsort beider Welten:
„Сегодняшняя Венеция — это особое место, устроенное, как портал; она образована за счет особых тектонических смещений, которые происходили в пространстве и времени.“[230]
Diese Andockpunkte sind für Juchananov jedoch über verschiedene Weltkulturen zerstreut – so ist etwa ein Fresko der mykenischen Kultur auf Kreta als Abbild einer Kreatur aus sverlija zu deuten. Darüber hinaus proklamiert Juchananov die Nähe von Denkern unterschiedlichster Ausrichtung zu Ideen der sverlijcy: den russisch-chassidischen Rabbiner Schne'ur Salman von Liadi (1745-1812) genauso wie den französischen esoterischen Schriftsteller und Metaphysiker René Guénon (1886-1951) und den US-amerikanischen Zukunftsforscher und Autor Raymond Kurzweil (*1948). Jede bedeutende Zivilisation der Weltgeschichte wird als im Kontakt zu den sverlijcy stehend gedeutet. Daraus lässt sich schließen, dass Juchananov an einer weiteren Variante eines Weltmythos bastelt. Die Welt der sverlijcy beschreibt eine gleichzeitig uralte und zeitlose Form der Gemeinschaft, die verschiedene Kulturechniken, wie Groys sagen würde, „appropriiert.“ Sie wildert in den Inhalts- und Ausdrucksformen der Utopie. Anders als symbolistische Konzeptionen,wie sie etwa Vjačeslav Ivanov Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieb, die eine Rückkehr zu antikem Wissen und Ritualen fordern, bezieht sich Juchananov nicht auf eine verlorene oder wieder zu erreichende menschliche Utopie. Vielmehr geht es ihm um die Beschreibung einer synthetischen parallelen Zivilisation, die verschiedene Besonderheiten des menschlichen Lebens vereint.
Ein entscheidendes Charakteristikum dieser Konzeption liegt allerdings darin, dass sich Juchananov selbst als Künstler und Teil dieser Gemeinschaft thematisiert. Damit ist auch wieder auf das grundlegende Thema dieser Arbeit, das Verhältnis zwischen Kunst und Leben verwiesen. Juchananov beschreibt eine besondere Rasse von Legionären, die sogenannten sverljonyši, die in besonderer Beziehung zu sverlija stehen: „это сверлийские резиденты, которые были внедрены в разные исторические эпохи земного времени и рассеяны в человеческой истории.“[231] Damit ist auch die Verbindung zur realen Person Boris Juchananov hergestellt:
„Оказалось, что один из Сверлёнышей — это я, Борис Юхананов. Более того, я Последний Сверлёныш. Когда-то я прошел основательную подготовку, как это делает каждый сверлийский резидент. Я был заслан в разные эпохи. Все мои земные реинкарнации связаны с этой засланностью. Я находился на постоянной связи со Сверлией. Эта связь держалась за счет определенной диеты. Более того, обученный как резидент, эту диету я всегда записывал в дневнике.“[232]
Die künstlerische Praxis ist also das vermittelnde Element zwischen den Welten, die Juchananov beschreibt. Dementsprechend ist auch die Attribution dieser Welt als gleichzeitig vergangen, gegenwärtig und zukünftig zu verstehen. Im Gegensatz zu einer klassischen Utopie, welche die Gegenwelt in der Zukunft oder in der Vergangenheit, aber sicher nie in der Gegenwart verortet, ist sverlija als Parallelwelt vielmehr eine gleichzeitige (sovremennyj) Gemeinschaft derer, die sich einen Zugang dazu geschaffen haben. Dieser Zugang erfolgt über künstlerische Praktiken. Als Paradebeispiel des Werdens im Dazwischen von Kunst und Leben hat das (künstlerische) Tagebuch eine besondere Funktion. Für diese Interpretation spricht auch ein Tagebucheintrag Juchananovs aus Театр и его дневники:
„Дневник – это запись блужданий. Удача придает сил.Так судьба участвует в теле. Может быть, так судьба управляет телом. «Коллизия» через сознание проникает на физический план, возвращаясь к себе самой в следующем изгибе жизни. В неописуемом взаимодействии идеального с материальным, проникая из одного плана в другой при помощи человека, существование формирует самое себя. «Социальное тело» (community) сходным образом участвует в этом формировании. Разница только в том,что социальное тело не испытывает одиночества.[233]
Kunst, Schreiben als Werden, als Wechselwirkung des Idealen mit dem Material(istischen) äußert sich im Aufzeichnen und Schreiben, wie bereits mehrmals diagnostiziert. Juchananov ist in dieser Leseart ein Künstler der sozialen Gemeinschaften, der das Werden, das Dazwischen, die Ambiguitäten der Kunst mit einer direkten gemeinschaftsbezogenen Aussage verbindet. In diesem Sinne entspricht sein Schreiben wieder dem, was Gilles Deleuze und Félix Guattari als eine Essenz der Literatur definiert haben, und hier ein letztes Mal wiederholt werden kann:
„Die Literatur ist eine vorgehende Uhr, und die Literatur ist eine Angelegenheit des Volkes. Die individuellste literarische Aussagenproduktion ist ein Sonderfall der kollektiven Aussagenproduktion.“[234]
V. Schluss. Poetik des Gegenwärtigen
„Werden heißt nicht eine Form erlangen (Identifizierung, Nachahmung, Mimesis), sondern die Zone einer Nachbarschaft [...] finden“,[235] schreibt Gilles Deleuze. Eine Spezifik des Schaffens von Juchananov könnte daran liegen, dass er nicht müde wird, diese nachbarschaftlichen Beziehungen zu erforschen. Ohne sich mit einer letzgültigen Form des künstlerischen Ausdrucks zufrieden zu geben, sucht das Schreiben als ständiger Prozess des Werdens, wie es in dieser Arbeit zu skizzieren versucht wurde, nach immer neuen Ausdrücken der Gegenwärtigkeit, die in jeder Aussage auch neue Formen bedingen.
Ein Ziel der vorliegenden Arbeit bestand dementsprechend darin, die eingangs formulierte Skepsis gegenüber den im Voraus bestimmten Begriffen, die die literaturwissenschaftliche Lektüre lenken, anhand einer praktischen Analyse zu überprüfen. In dieser Hinsicht gewinnt auch die Verknüpfung von Gedanken Bachtins, Derridas und Deleuzes eine weitere Ebene: Alle Theoretiker scheinen dieser Skepsis zuzustimmen. So zeigen etwa Bachtins Texte zur historischen Poetik des Romans, die in Kapitel III.4.1 kurz erwähnt wurden, den gemeinsamen Grundzug der Hinterfragung von Kategorien der literarischen Analyse und den Versuch, neue Terminologien zu finden. Diesem Anliegen wird bei Bachtin an verschiedenen Stellen der systematische Charakter der Analyse als Theorieproduktion geopfert. In gewisser Hinsicht trifft diese Diagnose auch auf die vorliegende Arbeit zu: Der Versuch, Begriffe in der Analyse weiter zu entwickeln und neu zu deuten, deckt sich nicht immer mit der Forderung nach Kohärenz und Widerspruchslosigkeit.
Diese Eigenschaften verhalten sich allerdings nicht weniger als komplementär, otvetstvennyj, entsprechend und antworthaft gegenüber dem Schreiben, dem sie gewidmet sind – dem Schaffen von Boris Juchananov.
Als durchgehend hilfreich hat sich hierfür der Begriff der sovremennost' erwiesen, der sich in der Beschäftigung mit dem Schreiben Juchananovs in überraschend vielen Deutungsmöglichkeiten zeigt. Es scheint insofern durchaus möglich, in Bezug auf Juchananov und andere Beispiele aus der russischen künstlerischen Praxis, sowie auf Konzeptionen von Bachtin, Derrida, Deleuze und anderen Autoren, die Thesen der vorliegenden Arbeit in Richtung einer poėtika sovremennosti zu erweitern. Eine dementsprechende interdisziplinäre Poetik des Gegenwärtigen müsste Juchananov im Lichte der Literatur- und Medientheorie betrachten und hätte wohl zu beiden Fachgebieten wichtige Impulse beizutragen.
Dementsprechend bedingt eine Poetik des Gegenwärtigen auch eine grundsätzliche Inter- oder Multidisziplinarität in der Herangehensweise. Die vorliegende Arbeit hofft, ihren Teil dazu beigetragen zu haben.
VI. Изложение на русском языке
В данной дипломной работе „Писание в процессе становления“ („Schreiben im Werden“) обсуждается творчество российского режиссера, теоретика и писателя Бориса Юрьевича Юхананова (*1957). В центре внимания - анализ отборных его писательских произведений, попытка связать их с теоретическими концептами из разных областей культуры и, впоследствии, сформулировать основные черты художественной поэтики Юхананова.
I. Введение
В первой главе описывается теоретическая основа и цель работы. После краткого очерка основых характерных черт творчества Юхананова предоставляется обзор методологических терминов, употреляющихся в дипломной работе. Речь идет о том, что специфичная художественная практика Юхананова требует критического подхода к слову «литература». В связи с этим исследуется соответсвующое понятие Жака Дерриды (в тексте Bleibe. Maurice Blanchot [Demeure. MauriceBlanchot, 1998]), который описивает общее понимание «литературы» как вторичный концепт. Ссылаясь на текст Жиля Делёз (Die Literatur und das Leben [La littérature et la vie, 1993]) предлагается слово «писание» вместо термина «литература». На основе текста из раннего творчетсва Михаила Бахтина («Искусство и ответственность», 1919) формулируется теоретическая основа дипломной работы об отношении между «жизнью» и «искусством», что в последствии является исходной точкой для анализа писательских работ Юхананова. Дипломная работа основывается на анализе вышеупомянутых тем и художественных средств выражения в произведениях Юхананова.
Для аргументации доводов в теоретической части работы вводится термин Михаила Бахтина вненаходимость. Он описывает место автора в «словесном творчестве» в отношении к герою, а также место каждого человека в отношении к «другому». По словам Бахтина, наше «Я», наше самосознание, наше чувство собственного достоинства конструируется только тем, как мы воспринимаем другость, т.е. фундаментальное инобытие другого человека и, следовательно, формулируем себя как другое, самостоятельное существо.
II. Биографический очерк
В ходе этой дипломной работы слово вненаходимость также употребляется при описании процесса художественного развития Бориса Юхананова. Во второй части речь идёт о том, что Юхананов находится вне установленных художественных и академических структур, и что с этим и связанны его творческие особенности. Несмотря на то, что Юхананов учился в начале 80-х годов в московском театральном институте ГИТИСе в классе Анатолия Эфроса и Анатолия Василева (двух крупнейших театральных деятелей 70-90-х годов), его отношение к институционализированной области культуры является сложным и противоречивым. С одной стороны, Юхананов работал в качестве ассистента режиссера над, вероятно, самым значительным спектаклем десятилетия, пьесой Виктора Славкина Серсо (1985), поставленной Василевым в Театре на Таганке. Стиль и теоретические размышления Василева безусловно оказались путеводными для эстетика Юхананова. С другой стороны, Юхананов активно отмежевался от своего учителя. Этот факт открывается в дневниках Юхананова, отрывки из которых изданы в рамках проекта Театр и Его дневник. Там он объясняет свои концепции и критикует классическое понятие художественной генеалогии: «Нужно выйти из-под оппозиции учитель–ученик».
Поэтому произведения Юхананова, которые он проводил в области андерграунда, неоффициального искусства, станут особенно значительными для его эстетического развития. Юхананов является одним из центральных деятелей «Паралеллного Кино». Это движение развивалось в московском и ленинградском андерграунде начиная с середины 80-х годов; главными его фигурами являются братья Глеб и Игорь Алейников, а центральным голосом стал журнал СинеФантом, который существует до сих пор. Деятели «Параллельного Кино» снимали фильмы и видео-работы, выражающие неконформистскую и агрессивную эстетику. На основе технического возможности снимать кино самостоятельно, безподдержи государственных институтов (как «Ленфильм» или «Мосфильм»), это движение создавало необычайные документы направляющого эпоха развитии искусства и общества. Главным участником Юхананова в этом коллективе является «видео-роман» Сумасшедший Принц (1986-1992), из которого 4 главы были изданы в 2006-ом году.
Деятельность Юхананова в научной сфере также интересна. Он один из основателей Ленинградского Свободного Университета и Свободной Академии, обе из которых имели короткое существование во времена перерстройки. Из этого станет ясно, что педагогическая деятельность Юхананова занимает уникальную переходную позицию между андерграундом и истеблишментом.
III. Моментальные Записки
Центральной частью дипломной работы является анализ романа Юхананова Моментальные записки сентиментального солдатика, или Роман о праведном юноше (неопубликованный роман, цитируется по рукописи из личного архива Б.Ю., Москва, редакция 2008 года). Роман написан в форме дневника одного юного солдата по имени Никита Ильин. Каждая запись дневника Никиты повествует об армейском быте, сообщениях товарищей, описывает природу и фиксирует отдельные мысли, краткие рассказы, стихи и фантазии в течение двух армейских лет. Некоторые заметки Бориса Юхананова, однако, сообщают, что роман написан на основе («настоящих») армейских дневников, которые автор вел в начале 80-х годов, когда он сам служил в армии.
Из этих обстоятельств возникают интересные парадоксы и проблемы, которые близко связаны с главными темами дипломной работы (писание и становление, жизнь и искусство). «Автор» в романе играет две отдельные функции: «записывающий» и «издатель». Реальный Борис Юхананов участвует в обоих. Такой вывод можно сделать из анализа предисловия и эпилога.
В дальнейшем, речь идет о внутренней структуре романа и приводятся агрументы в пользу разделения романа на три части:
1. В первых главах описывается постепенное привыкание к жизни в армии, к здешней социальной структуре и повседневной работе новобранцев. Особое внимание уделяется расхождениям между внутренним и внешним миром новобранцев – естественный язык описания природы и самоанализ Никиты жестко противостоят дословному воспроизведению разговорного, «ненормативного» языка солдатов.
2. Хотя вышеупомянутые элементы сохраняются и во второй части, тем не менее, в середине записок текст все больше и больше намекает на свой статус «настоящего» документа, и все чаще появляются записи, которые указывают на тот факт, что Никита записывает почти все, что происходит в реальной жизни. Отрывки разных художественных текстов (Томас Манн, Лев Толстой, Диккенс, Стендаль и др.) занимают всё больше места и играют роль литературных моделей.
3. В третьей части ежедневные наблюдения становятся более фрагментарными и отходят на второй план. Автор чаще всего занят философскими вопросами, такими как разговоры с ближними Никиты, в которых обсуждаются фундаментальные вопросы бытия.
В дальнейшем анализируются специфические качества романа Юхананова. Во-первых, обсуждаются свойства формы дневника. Дневник художника, по словам Юхананова, изображает «призрачные желание пожить в мире или ощутить мир без себя». Связь дневника с мыслями о смерти и размышлениями Жака Дерриды на эту тему станет центральным вопросом в этой главе. Подобные рассуждения можно найти и у Бахтина: в статье «Автор и герой в эстетическом деятельности» (1923/1924) он аргументирует, что невозможно для человека занимать художественную позицию к собственной жизни. Поэтому можно описывать форму дневника как особенное рассмотрение этих обстоятельств.
Далее речь идет о проблемах материальности и монтажа, а также описывается связь между Юханановым и романом Томаса Манна Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans (1949). Суть состоит в том, что оба писателя используют особенные средства монтажа цитат (из реальной «действительности»), но для различных целей: у Манна сходятся все элементы в художественное целое, тогда как у Юхананова они остаются разбросанными и гетерогенными. Юхананов также пользуется предметом монтажа исторических событий. Социальная реальность и тело литературы стоят рядом и производят особенный род «очевидности» (Evidenz). В этом контексте вводятся два термина Жиля Делёза: «сцепление» (enchaînement, Verkettung) и «симпатия» (sympathie). Оба понятия оказываются полезными средствами при дискуссии о методах Юхананова – сочетание фрагментов естественного диалога и испытывания мира одного солдата.
Основным элементом следующей главы является анализ юханановской теории видео и ее примерения для обсуждения романа Моментальные записки. Во-первых, объясняются его термины речь и матрица. Юхананов разработал их в ряде теоретических статей, написанных в 80-х и 90-х годах. Свойство видео, возможность снимать проходящие фрагменты реальности (=речь) без особых технических усилий напоминает метод Никиты в романе, который стремится всю жизнь записывать по средством блокнотика. Видеозапись или текст, которые возникли при работе этим методом, называются матрицей, из которой можно вырабатывать ряд текстов. Юхананов описывает и соотношение человеческого тела к камере, и вводит термин видео-человек, который в данном контексте можно сравнить с неологизмом человек-запись. Затем обсуждается понятие перформанс в творчестве Юхананова. В анализе сцены из видеофильма Сумасшедший Принц. Игра в XO (1987-2006) речь идет о том, что в мышлении и художественной практике Юхананова перформанс близок к выражению истины. Также можно характеризовать метод беспрерывных записок как перформативное писание и поэтому особенно искренний поход к писательству. Последним главным разъяснением юханановской теории видео является дискуссия о концепции письменности (écriture) у Жака Дерриды. Начиная с понятия Дерриды о письменности как основом явлении бытия и «движения без происхождения», характеризуется роман Юхананова как рассмотрение фундаментального принципа писания. Даже до того как приписываются повествовательные и семантические смыслы, письменность становится перформативным высказыванием.
В следующей главе возникает вопрос об образе художественного развития в Моментальных записках и обсуждаются концепции «романа воспитания» у Гёте и Бахтина. Свойство романа Юхананова как «истории посвящения души» можно связать с попытками Бахтина писать историческую типологию романа. Особенно значымыми оказываются названия индивидуальных глав: они утверждают интерпретацию романа как Bildungsroman и как развитие к бытию художника. После этого обращается внимание на отдельные понятия Бахтина, выраженные в его ранней статье «К философии поступка» (около 1921). Бахтин говорит о том, что мы не можем осмыслять наше бытие и разум без конкретного поступка (Handlung). Бахтин сомневается в том, что существуют чистые, теоретические, абстрактные идеи, и утверждает, что они всегда сопровождаются какими-нибудь конкретными поступками (например, он не говорит о «мысли», но вводит неологизмы «мысль-поступок» или «мысль-действие»). Из этого следует, что в романе Юхананова возникают подобные размышления: для Никиты бытие (жизнь в армии) существует только в совокупности с конкретным действием (описывание действительности). Также обсуждаются Бахтинские термины архитектура и композиция, о которых он говорит в статье «Проблема содержания, материала и формы в словесном художественном творчестве» (1925), и выдвигается тезис, что в произведении Юхананова совпадают оба эти понятия.
В следующей главе исследуется, какую роль играют фантазии в записках Никиты. Центральное место занимает дракончик. Этот персонаж является значимым для перехода между внутренней и внешней сферой, между интерьером и экстерьером. Он представляет собой неуправляемые силы литературы. Этому противостоит кошка Лариска, повторная смерть которой является лейтмотивом романа. Последний аргумент главы состоит в том, что Юхананов соединяет эти противостоящие характеры предметом литературы: в одной важной записи он описывается сцену, где дракончик читает кошке Толстого. Литературная традиция, действительность и фантазии соединяются в записках.
В последней главе, которая посвящена в первую очередь анализу романа Моментальные Записки, обсуждаются вопросы нарратологии. Форма «прямых» записок вызывает вопрос о существовании какого-либо прообраза повествовательных структур, которые воздействуют на наблюдение. По этому поводу используются теории французского теоретика Поля Рикёра. Речь идет о том, что в записках существуют напряженные отношение между художественной, литературной, искусственной структурой повествования и несвязанной, случайной логикой Non-Sequitur. Это противостояние ещё раз напоминает главную тему дипломной работы – жизнь и искусство. Подробно анализируется предпоследняя глава, в которой жизнь Никиты (отношение к жене) и его искусство (записки, которые он ведет) сталкиваются.
IV. Вопрос сообщества
Последней частью дипломной работы является обсуждение понимания сообщества (Gemeinschaft). Некоторые проекты Юхананова (напр. театральный сериал ЛабораТОРИЯили «роман-опера» Сверлийцы) задаются вопросами о том, как Юхананов понимает место искусства в формировании общества.
Во-первых, анализируется концепт «неисправного общества» (сommunauté désœuvrée) французского философа Жана-Люка Нанси. В паралпельной дискуссии размышлений Нанси и произведения Юхананова открывается связь между подходами двух авторов к тому, что лежит в основе человеческого общества и как можно избежать развития националистических идей.
Во-вторых, обсуждается книга Бориса Гройса Das kommunistische Postskriptum. В ней Гройс cравнивает советское государство с древнегреческим понятием «царства философов». Коммунистическое государство для него основывается на внутреннем разрыве каждого человека, потому что диалектическое, «парадоксальное», философское мышление требует от него одновременно быть «советским» и «анти-советским». Этому противостоит художественное описание Юхананова мирной цивилизации в Сверлии – параллельная цивилизация, придуманная Юханановым. Средним элементом между мирами снова является эстетическая деятельность.
В завершении этой дипломной работы делается вывод, что творчество Бориса Юхананова обсуждает проблемы взаимодействия между жизнью и искусством с помощью многообразия средств. Таким образом, его писательские произведения действительно являются «Писанием в процессе становления».
VII. Quellenverzeichnis
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2. Filme
СумасшедшийПринц: Игра в XO, R: BorisJuchananov, Russland/UdSSR 1987-2005, Video, 63min.
Сумасшедший Принц: Фассбиндер, R: BorisJuchananov, Russland/UdSSR 1988-2005, Video,40min.
Сумасшедший Принц: Эсфирь, R: BorisJuchananov, Russland/UdSSR 1988-2005, Video,78min.
Сумасшедший Принц: Японец, R: BorisJuchananov, Russland/UdSSR 1988-2005, Video,81min.
[Diese 4 Teile des Сумасшедший Принц– Zyklus sind auf DVD erschienen: Moskau, DVD Cinefantom, 2006]
Неуправляемый ни для кого, R: Boris Juchananov, Russland 1995, Video, 16min.
Да, дауны, или Поход за золотым птицами, R: Boris Juchananov, Russland 1997, Video, 109min.
Abstract (Deutsch)
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit werden ausgewählte Texte aus dem Oeuvre des russischen Regisseurs, Schauspielers, Schriftstellers und Theoretikers Boris Jur'evič Juchananov (*1957) in Bezug auf eine Poetik des „Schreibens im Werden“ untersucht. Der Verortung dieses Künstlers als zwischen verschiedenen Institutionen und künstlerischen Positionen entsprechend, wird eine Interpretation und Revision der für diese Arbeitsweise grundsätzlichen Begriffe versucht.
Die theoretischen Bezugspunkte dazu kommen einerseits aus der Schriftkonzeption Jacques Derridas und Gilles Deleuzes (gemeinsam mit Félix Guattari und Claire Parnet) Überlegungen zur Literatur (sowohl als „Werden“ als auch als mineur); andererseits vom russischen Philologen und Philosophen Michail Bachtin. Dessen Konzeption einer „Philosophie der Handlung“ (ca. 1921) sowie verschiedene ästhetische Schriften werden im Hinblick auf die Problematik des Zusammenhangs von „Kunst“ (als Literatur) und „Leben“ gelesen und als eine der Grundproblematiken im Schreiben und Schaffen von Boris Juchananov definiert. Dieses wird einerseits in einem biografischen Abschnitt beschrieben, der Juchananov vor allem im Kontext der russischen Kunstszene des andergraund der 1980er verortet; andererseits vor dem Hintergrund von Fragen der Gemeinschaft und des sowjetischen Staates.
Zentrales Anliegen der Arbeit ist jedoch eine Lektüre von Juchananovs unveröffentlichtem Roman Моментальные записки сентиментального солдатика (gelesen in einer Redaktion von 2008) und dessen Analyse im Lichte dieser theoretischen Konzepte. Juchananovs „Aufzeichnungsroman“ wird einerseits im Spiegel einer Poetik des Tagebuchs und der Montage von Materialitäten, als auch in Bezug auf Juchananovs theoretische Texte zur Videokunst gelesen.
Abstract (English)
The paper at hand aims at a discussion of selected texts from the Russian director, actor, writer and theoretician Boris Jurevich Jukhananov (born 1957) with a view on a poetics of “Writing as Becoming”. The artist is located in-between several institutions and artistic positions; therefore the paper tries to critically revise and apply certain terms and conceptions that usually form the basis of literary analysis. In this respect, the paper has two main appeals: contextualizing Jukhananov’s work (descriptive aspect) as well as discussing the applicability and validity of selected terms and concepts (systematic aspect).
These concepts are drawn from Jacques Derrida’s formulation of “writing” and Gilles Delueze’s (together with Félix Guattari and Claire Parnet) theoretical discussions on literature (both its aspects as being “minor” and as a state of “becoming”) as well as from the Russian philologist and philosopher Mikhail Bakhtin. His conception of a “Philosophy of the act“ (approx. 1921) together with several selected writings on aesthetics, are discussed in relation to the problem of “art” (as “literature”) and “life”, the juxtaposition of which appears to be a major concern in the theoretical and artistic writings of Jukhananov. These circumstances are elaborated, drawing from both Jukhananov’s biography, where he is described as a major figure in the Russian underground scene of the 1980s, and in relation to questions of community and the late soviet state.
The central concern of this paper, however, is to be found in a discussion of Jukhananovs unpublished novel Моментальные записки сентиментального солдатика (read in a version from 2008) and its analysis concerning the aforementioned theoretical concepts. Jukhananov’s „novel of transcription“ is discussed as contributing to a poetics of the diary and the materiality of montage as well as in relation to Jukhananov’s own theoretical works on the aesthetics of video.
Curriculum Vitae
Andreas Schmiedecker
geboren am 14.03.1988 in Wien
Ausbildung
Katholische Universität Leuven, Belgien
seit 2012: MA-Studium Cultural Studies
Universität Wien
2009 - 2012: BA-Studium Anglistik und Amerikanistik
2007 - 2012: Diplomstudium Theater-, Film- und Medienwissenschaft
2007 - 2013: Diplomstudium Slawistik/Russisch
Russische Staatliche Universität für Humanwissenschaften (RGGU), Moskau
2010: Studium Russisch und Theatergeschichte (Auslandssemester)
1998-2006: Gymnasium der Erzdiözese Wien, Sachsenbrunn in Kirchberg/W.
Fokussierungen:
Zeit und Narration
Theater und Film im Russland der Gegenwart
Kino und Geschichte
[1] Deleuze, Gilles: „Die Literatur und das Leben.“ In: Ders.: Kritik und Klinik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000, 11- 17, hier 11.
[2] Юхананов, Борис: „»Я хотел бы заниматься тем, чего нет и быть не может.» Интервью Татьяны Восковской с Борисом Юханановым.“ In: Юхананов, Борис/Шевченко, Наталия: Театр и его дневники. Фрагменты жизни, речи и тексты. Москва: Печать пилотного тиража типография ООО «Белый ветер», , sdfsdf356. 2013, 333-356, hier 340.
[3] Derrida, Jacques: Bleibe. Maurice Blanchot. Wien: Passagen, 2011, 26, Hv. i. O.
[4] Vgl. dazu Juchananovs Schlüsselbegriff der novaja processual'nost', etwa auf S. 29 dieserArbeit.
[5] Бахтин, М. М.: „Искусство и ответственность.“ In: Ders.: Работы 1920-х годов. Киев: Next, 1994, 7-8, hier 8; auf Deutsch als„Kunst und Leben sind nicht eins, aber sie müssen in mir einheitlich werden, in der Einheit meiner Verantwortung“ In: Bachtin, Michail M.: „Kunst und Verantwortung.“ In: Ders. Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979, 93-94, hier 94.
[6] Vgl. Sasse, Sylvia: Michail Bachtin zur Einführung. Hamburg: Junius, 2010, 20ff.
[7] Бахтин, М. М.: „К философии поступка.“ In: Ders.: Работы 1920-х годов. Киев: Next, 1994, 9-68, hier 25; auf Deutsch als „Lehre nicht vom einheitlichen kulturellen Werk, sondern vom einheitlichen und einzigartigen Seins-Ereignis“ in Bachtin, Michail M.: Zur Philosophie der Handlung. Berlin: Matthes & Seitz, 2011, 62.
[8] Nach der Ansicht von Boris Groys besteht darin die gesamte Faszination des „Westens“ für den „Verzicht auf alle für den westlichen Rationalismus traditionellen Kategorisierungen, einschließlich der Unterscheidung zwischen Kunst und Leben“ (94), der „als extrem östlich“ empfunden wird. Darin besteht für Groys das Hauptinteresse des „Westens“ an den verschiedene Spielarten der russischen Avantgarde, vgl. Groys, Boris: „Die Ethik der Avantgarde.“ In: Ders.: Die Erfindung Russlands. München, Wien: Carl Hanser, 1995, 93-104.
[9]Deleuze, Gilles/Parnet, Claire: „Von der Überlegenheit der anglo-amerikanischen Literatur.“ In: Dies.: Dialoge. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1980, 43-82.
[10] Auch wenn die deutsche Übersetzung das Wortspiel zulässt, „Überlegenheit“ im Kontext des Verbs „überlegen“ zu lesen, und den Text demzufolge als „Überlegung“ der anglo-amerikanischen Literatur über die französische zu deuten (was dem Impetus des Textes ja letztendlich auch entsprechen würde). Das französische Original, supériorité, verschließt sich jedoch einer solchen Interpretation. Bestenfalls ließe es sich als „darüberliegend“ verstehen, was in jedem Fall auch eine kommunikative Situation einschließt.
[11] Бахтин:„К философии поступка“, 11f.
[12] Bachtin: Zur Philosophie der Handlung, 34. Soweit Bachtins Arbeiten auch auf Deutsch erschienen sind, wird im Folgenden immer sowohl die russische Originalversion als auch die Übersetzung zitiert werden.
[13] Бахтин:„Кфилософиипоступка“, 17.
[14] Bachtin:Zur Philosophie der Handlung, 44.
[15] Vgl. Clark, Katerina/Holquist, Michael: Mikhail Bakhtin. Cambridge, London: Harvard University Press, 1984, 63. Eine Ausführliche Besprechung des Begriffs findet sich ebd. 74.
[16] Dieser Satz fehlt in der russischen Ausgabe. Deutsch zitiert nach Bachtin: Zur Philosophie der Handlung, 45f.
[17] Бахтин, М. М.: „Проблема содержания, материала и формы в словесном художественном творчестве.“ In: Ders.: Работы 1920-хгодов. Киев: Next, 1994, 257-318, hier 276.
[18] Bachtin, Michail M.: „Das Problem von Inhalt, Material und Form im Wortkunstschaffen.“ In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979, 95-153, hier 111.
[19] An diese Konzeption erinnert auch der Begriff „Deterritorialisierung“, den Deleuze verwendet, um verschiedene künstlerische Praktiken zu beschreiben. Im Gegensatz zu Bachtin ist dies allerdings keine Eigenschaft des „Bereichs der Kultur“, sondern ein spezifisches Verfahren, das etwa einer „littérature mineure“ eignet, vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976, passim.
[20] Vgl. dazu in der vorliegenden Arbeit Juchananovs Position in Bezug auf kulturelle Strukturen in Kap. II.1 und 2 sowie die Problematik Innen/Außen etwa in Kap. III.3.3.
[21] Бахтин, М. М: „Проблема речевых жанров.“ In: Ders.: Эстетика словесного творчества. Москва: Искусство, 1979, 237-280, hier 240.
[22] Бахтин: „Проблема речевых жанров“, 272, Hv.i.O.
[23] Юхананов, Борис: „Театр – территория раскрытия универсального потенциала личности.“ In: Юхананов, Борис/Шевченко, Наталия: Театр и его дневники. Фрагменты жизни, речи и тексты. Москва: Печать пилотного тиража типография ООО «Белый ветер», 2013, 14-38, hier 30.
[24] Deleuze: „Die Literatur und das Leben“, 11.
[25] Бахтин: „Проблема содержания, материала и формы в словесном художественном творчестве“, 283, Hv. i. O.
[26] Bachtin:„Das Problem von Inhalt, Material und Form im Wortkunstschaffen“, 118, Hv. i. O.
[27] Es ist uns bewusst, dass Bachtins Wortwahl des „Vollendens“ oder „Abschließens“ (zaveršat') einen Widerspruch zu vielen Argumentationslinien dieser Arbeit darstellt, die auf das ständige Werden und damit auf eine grundsätzliche Unabschließbarkeit rekurrieren. Dies entspricht auch einem Perspektivenwechsel im Schreiben Bachtins, der etwa ab dem Buch über Dostoevskij (1929) im Zuge der „Entdeckung“ von dessen Dialogizität ebenfalls von der Unabschließbarkeit zu sprechen beginnt. Der frühe Bachtin operiert mit dem Begriff des Abschließens jedoch noch auf einer grundsätzlicheren Ebene, die sich mit der Frage beschäftigt, wie ein Mensch überhaupt einen ästhetischen oder ethischen Zugang zum „Material“ erlangen kann. Dafür ist die Abschließbarkeit unerlässlich. Spätere Texte Bachtins argumentieren hingegen vielmehr auf der Ebene der Organisation eines bereits geformten Materials. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann dieser Gegensatz jedoch unaufgelöst bleiben.
[28] Vgl. dazu in der Sphäre des Theaters: Senelick, Lawrence: „Recovering Repressed Memories: Writing Russian Theatre History. In: Wilmer, S. E. (Hg.): Writing & Rewriting. National Theatre Histories. Iowa City: University of Iowa Press, 2004, 47-67.
[29] Leach, Robert/ Borovsky, Victor (Hg): A history of Russian theatre. Cambridge: Cambridge UP, 1999.
[30] Пивоварова, Н. С. (Hg.): История русского драматического театра: от его истоков до конца ХХ века. Москва: ГИТИС, 2005.
[31] Vgl. im Kontext der vorliegenden Arbeit etwa: Möller, Olaf: „Return of the Living Dead. The resurrection of Cine Fantom, prime mover in Parallel Cinema, the former Soviet Union's underground film scene.” In: Film Comment, Volume 43 (Jan/Feb 2007), Nr. 1, 13-14; sowie: Ljalina, Olga: „Russischer Film-Underground 1984-1994: Das ‚Parallele Kino‘.“ In: Balagan, 1 (1995), Nr. 1, 132-146.
[32] Es existieren allerdings Sammelbände zu verschiedenen Aspekten der Untergrundkultur, vgl. etwa Berry, Ellen E./Miller-Pogacar, Anessa (Hg.): Re-Entering the Sign. Articulating New Russian Culture. Ann Arbor: University of Michigan Press, 1995.
[33] „So gesehen qualifiziert das Adjektiv ‚klein‘ nicht mehr bloß bestimmte Sonderliteraturen, sondern die revolutionären Bedingungen jeder Literatur, die sich innerhalb einer sogenannten ‚großen‘ (oder etablierten) Literatur befindet. [...] Allein die Möglichkeit einer kleinen (nicht etablierten) Schreibweise auch innerhalb großer Sprachen erlaubt eine Definition von populärer, marginaler usw. Literatur. Nur um diesen Preis wird die Literatur tatsächlich zur kollektiven Ausdrucksmaschine, nur so wird sie fähig, Inhalte zu behandeln, mit sich fortzureißen.“ Deleuze/Guattari: Kafka, 27.
[34] Freedmans Text gliedert Juchananovs Inszenierung in einen breiterenÜberblick über die mannigfaltigen Wege der Čechov-Inszenierungen im postsowjetischen Russland ein. Freedman, John: „Center Stage: Chekhov in Russia 100 Years on.“ In: Modern Drama, 42 (1999), Nr. 4, 541-564, hier 550.
[35] Vgl. Иванова, Наталья: „Ускользающая современность. Русская литература XX–XXI веков: от "внекомплектной" к постсоветской, а теперь и всемирной.“ In: Вопросы Литературы, (2007), Nr. 3, 30-53.
für eine breitere Besprechung dieser Umstände und des fraglichen Begriffs. Eine englische Übersetzung findet sich in Ivanova, Natal'ja: „That Elusive Contemporaneity. Russian Literature of the Twentieth and Twenty-First Centuries: From “Outside the Mold” to Post-Soviet, Now Global.” In: Russian Studies in Literature, 45 (Summer 2009), Nr. 3, 30-52.
[36] Бахтин, М. М.: „Роман воспитания и его значение в истории реализма. К исторической типологии романа.“ In: Ders.: Эстетика словесного творчества. Москва: Искусство, 1979, S. 188-236, hier 208.
[37] Юхананов, Борис: „У тебя в руках твоя голова. Диалог о Видео.“ o.O., 1986, zit. nach http://you-mir.ru/u-tebya-rukakh-tvoya-golova-boris-yukhananov (13.12.2012), letzter Abschnitt.
[38] Der Überblick folgt Juchananovs eigener Auflistung, nachzulesen unter http://you-mir.ru/biografiya (13.12.2012) und wird, sofern möglich, durch zusätzliche Quellen ergänzt.
[39] Seit 1991 offiziell РАТИ (Российская академия театрального искусства). Der alte Name ist allerdings nach wie vor gebräuchlich.
[40] Beumers, Birgit: „The 'thaw' and after, 1953-1986.” In: Leach, Robert/Borovsky, Victor: A history of Russian theatre. Cambridge: Cambridge UP, 1999, 358-381, hier 380.
[41] Юхананов, Борис:„У меня есть догадка, что другого типа мистерии нашему поколению не дано.“ In: Юхананов, Борис/Шевченко, Наталия: Театр и его дневники. Фрагменты жизни, речи и тексты. Москва: Печать пилотного тиража типография ООО «Белый ветер», 2013, S. 414-436, hier 414.
[42] Aufgrund von „ideological shortcomings“, vgl.Beumers, „The 'thaw' and after”, 371.
[43] Brauckhoff, Maria: Das Theater Anatolij Vasil’evs (1973 - 1995). Zwischen Tradition und Erneuerung.Bochum: Projekt-Verlag, 1999, 367.
[44] Юхананов: „У меня есть догадка, что другого типа мистерии нашему поколению не дано“, 417.
[45] Юхананов: „У меня есть догадка, что другого типа мистерии нашему поколению не дано“, 416.
[46] Vgl. Brauckhoff, Das Theater Anatolij Vasil’evs, 328ff. Zu Vasil'evs Theaterkonzeption vgl. auch Koller, Sabine: Das Gedächtnis des Theaters. Stanislavskij, Mejerchol’d und das russische Gegenwartstheater Lev Dodins und Anatolij Vasil’evs. Tübingen: Francke, 2005; Beumers, Birgit: „Spinning the Text: The Play with Infinity in Contemporary Russian Theatre.” In: The Modern Language Review, 97 (Jan 2002), Nr. 1, 135-148; sowie Vasil’jev, Anatolij: Dem einzigen Leser. Schriften zum Theater. Berlin: Alexander Verlag, 2003.
[47] Vgl. Юхананов, Борис: „Теория видеорежиссуры.“ In: Митинжурнал, (1989), Nr. 25, zit. nach http://you-mir.ru/teoriya-videorezhissury-boris-yukhananov (20.01.2013).
[48] Юхананов, Борис: „Торжество Сарумана Серого. Саруман Серый. Толкиен.“ In: Юхананов, Борис/Шевченко, Наталия: Театр и его дневники. Фрагментыжизни, речиитексты. Москва: Печать пилотного тиража типография ООО «Белый ветер» 2013, 69-71.
[49] Ebd. 70.
[50] So die Formulierung der russischen Theaterwissenschaftlerin Natal'ja Pivovarova im persönlichen Gespräch mit dem Verfasser im Mai 2010.
[51] Юхананов: „Театр – территория раскрытия универсального потенциала личности“, 30, Hv. i. O.
[52] Möller: „Return of the Living Dead“, 13.
[53] Vgl. Kap IV. 2 der vorliegenden Arbeit.
[54] Ljalina: „Russischer Film-Underground 1984-1994“, 134.
[55] Die weiter oben zitierte Forderung „Нужно выйти из-под оппозиции «учитель–ученик»“ lässt sich auch in diesem Zusammenhang verstehen.
[56] Юхананов: „»Я хотел бы заниматься тем, чего нет и быть не может»“, 333.
[57] Юхананов, Борис: „О советском андеграунде, или несколько независимых материалов к истории создания спектакля «Наблюдатель».“ In: Юхананов, Борис/Шевченко, Наталия: Театр и его дневники. Фрагменты жизни, речи и тексты. Москва: Печать пилотного тиража типография ООО «Белый ветер», 2013, 211-236, hier 211f. Hv. i.O.
[58] Ebd. 215, Hv. i. O.
[59] Entwickelt 1987 im Rahmen von Vasil'evs Škola dramatičeskogo iskusstva, danach Premiere 1988 im Moskauer Theater Metropol'.
[60] Lawton, Anna: Kinoglasnost: Soviet cinema in our time. Cambridge: Cambridge UP, 1992, 230.
[61] Ab dem Sommer 1989 zog sich Juchananov wieder zurück, seine pädagogische Aktivität ging teilweise in die Arbeit in den Klassen der MIR auf.
[62] Diese Akademie wurde in unregelmäßigen Abständen wiederbelebt und veranstaltet etwa zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Früjahr 2013) einen konkurs für eine kommende, fünfte Generation von Studenten.
[63] Юхананов:„Театр – территория раскрытия универсального потенциала личности“, 31, Hv. i. O.
[64] http://you-mir.ru/biografiya, (03.01.2012)
[65] Юхананов:„ Театр – территория раскрытия универсального потенциала личности“, 31.
[66] Ebd.
[67] Бахтин: „Проблема речевых жанров“, 268, Hv. i. O.
[68] Юхананов:„Театр – территория раскрытия универсального потенциала личности“, 31f.
[69] Vgl.Юхананов, Борис: „»О новой мистериальности и проекте “Сад“».“ In: Юхананов, Борис/Шевченко, Наталия: Театр и его дневники. Фрагменты жизни, речи и тексты. Москва: Печать пилотного тиража типография ООО «Белый ветер», 2013, 357-376.
[70] Бавильский, Дмитрмй: „Садовник. Сад.“ In: Митин журнал, (зима 1997), Nr 54, 220-243, zit. nach http://www.vavilon.ru/metatext/mj54/bavilsky1.html (03.01.2013), 2. Abschnitt, 5. Absatz.
[71] Неуправляемый ни для кого, R: Boris Juchananov, Russland 1995, Video, 16min.
[72] Да, дауны, или Поход за золотым птицами, R: Boris Juchananov, Russland 1997, Video, 109min.
[73] Юхананов: „Я хотел бы заниматься тем, чего нет и быть не может“, 343.
[74] Ebd. 353.
[75] Юхананов, Борис: „Перформанс и театр.“ In: Юхананов, Борис/Шевченко, Наталия: Театр и его дневники. Фрагменты жизни, речи и тексты. Москва: Печать пилотного тиража типография ООО «Белый ветер», 2013, 304-308, hier 306.
[76] Юхананов: „Перформанс и театр“, 308.
[77] Юхананов, Борис: Моментальные записки сентиментального солдатика,или Роман о праведном юноше. Zit. nach einer Abschrift des handschriftlichen Manuskripts aus dem persönlichen Archiv von Boris Juchananov, Москва, 2008, 367.
[78] Insofern der Roman nicht im Druck erschienen ist, wird im Folgenden eine Abschrift des handschriftlichen Manuskripts aus dem persönlichen Archiv von Boris Juchananov zitiert werden. Für die Zuverfügungstellung bin ich dem Archiv und, im Speziellen, Leda Timofeeva zu außerordentlichem Dank verpflichtet.
[79] Grund für diese Feststellung sind einschlägige Aussagen in der persönlichen Korrespondenz mit Boris Juchananov sowie in verschiedenen Interviews (vgl. etwa S. 43 und 54f. der vorliegenden Arbeit).
[80] Als Teil des Fließtexts wird der Roman im Folgenden kurz mit Zapiski bezeichnet werden.
[81] Geroj, Held, entspricht in Bachtins Terminologie einem Überbegriff dafür, was später meist unter „handelnder Charakter“ verstanden werden wird. Der Begriff wird hier dementsprechend verwendet.
[82] Vgl. Бахтин, М. М.: „Автор и герой в эстетической деятельности.“ In: Ders.: Работы 20-хгодов. Киев: Next, 1994, S. 69-255, hier 71f.
[83] Ebd. 135, Hv. i. O.
[84] Bachtin, Michail M.: Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008, 115, Hv. i. O.
[85] Vgl. Ponzio, Augusto: „The Relation of Alterity in Bachtin, Blanchot, Lévinas.” In: Russian Literature, 41 (1997), Nr. 3, 315-332.
[86] Der Stellenkommentar von Rainer Grübel und Ulrich Schmid in der deutschen Ausgabe weist auf die Ursprünge des Begriffs in der Arbeit des deutschen Philosophen Theodor Lipps (1851-1914) hin, dessen Arbeit Bachtin vermutlich durch die Vermittlung seines Lehrers Ivan Lapšin kannte. Vgl. Bachtin: Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit, 274, Fußnote 28; sowie zum selben Thema Sasse, Michail Bachtin zur Einführung, 43.
[87] Бахтин: „Автор и герой в эстетической деятельности“, 140.
[88] Bachtin: Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit, 121.
[89] Von Gérard Genette definiert als „jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt.“ Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989, 10.
[90] Юхананов: Моментальные записки, 2.
[91] Vgl. die bereits früher (S. 17) zitierteStelle: „Эта вненаходимость (но не индифферентизм) позволяет художественной активность извне объединять, оформлять и завершать событие.“ (Bachtin: „Das Problem von Inhalt, Material und Form im Wortkunstschaffen“, 118, Hv. i. O.)
[92] Юхананов: Моментальные записки, 680.
[93] Ebd.
[94] Театр и Его Двойник im Russischen, auf Deutsch erschienen als Das Theater und sein Double zuletzt bei Matthes & Seitz, Berlin, 2012.
[95] Zitiert nach „В ступление к изданию“, erklärendes Beiblatt zum Projekt, im Rahmen der Korrespondenz des Verfassers mit Boris Juchananov und Leda Timofeeva.
[96] Юхананов, Борис/Шевченко, Наталия: Театр и его дневники. Фрагменты жизни, речи и тексты. Москва: Печать пилотного тиража типография ООО «Белый ветер», 2013.
[97] Юхананов, Борис: „Из дневника. Часть 1.“ In: Юхананов, Борис/Шевченко, Наталия: Театр и его дневники. Фрагментыжизни, речиитексты. Москва: Печать пилотного тиража типография ООО «Белый ветер», 2013, 39-162, hier 66.
[98] Derrida: Bleibe, 46.
[99] In diesem Zusammenhang kann auch auf Derridas Reflexion über das „Erbe“ des Kommunismus verwiesen werden: Derrida, Jacques: Marx' Gespenster. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004.
[100] Blanchot, Maurice: Die Schrift des Desasters.München: Wilhelm Fink, 2005, 83.
[101] Vgl. Бахтин: „Автор и герой в эстетической деятельности“, 171ff.
[102]Бахтин: „Автор и герой в эстетической деятельности“, 174, Hv. i. O.; auf Deutsch: "Das Gedächtnis an den Anderen und sein Leben unterscheidet sich grundlegend von der Betrachtung und Erinnerung an das eigene Leben." (Bachtin: Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit, 170, Hv. i. O.).
[103] Бахтин: „Автор и герой в эстетической деятельности“, 211; auf Deutsch: „Mein Blick auf mein eigenes Leben ist nur Antizipation der Erinnerung, die Andere an dieses Leben haben" (Bachtin: Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit, 215).
[104] Юхананов: Моментальные записки, 678.
[105] Сильвестров, Андрей: „Интервью Бориса Юхананова эксклюзивное и полное.“ (22. Juni 2011), zit. nach http://cinefantomclub.ru/?p=1652 (03.11.2012), 2. Abschnitt.
[106] Юхананов: Моментальные записки, 113.
[107] In diesem Zusammenhang lässt sich ein weiteres Mal auf Bachtins Überlegegungen zum Anderen hinweisen, der hier tatsächlich, als die „fremde Realität“ verstanden werden könnte.
[108] Mann, Thomas: Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romanes. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1966, 29.
[109] Ebd.
[110] Юхананов: Моментальныезаписки, 556.
[111] Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus, 39.
[112] Auf die Frage nach dem Status als Künstler und dem Weg dorthin soll in Kapitel III.4 noch eingegangen werden.
[113] Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus, 30.
[114] Юхананов: Моментальные записки, 8, Hv. i. O.
[115] Ebd. 30.
[116] Ebd. 29.
[117] Vgl. Barthes, Roland: „Der Wirklichkeitseffekt.“ In: Ders.: Das Rauschen der Sprache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005, 164-172.
[118] Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus, 44. Vgl. Юхананов: Моментальные записки, 63, „А я, если говорить о стиле, признаю, собственно, только пародию.“ Auch Bachtin liest in einer Fußnote des Dostoevskij-Buches dieses Mann-Zitat als Hinweise auf die „starke Karnevalisierung“ von Manns Werken, vgl. Bachtin, Michail: Probleme der Poetik Dostoevskijs. München: Carl Hanser, 1971, 314.
[119] Deleuze/Parnet, „Von der Überlegenheit der anglo-amerikanischen Literatur“, 59, Hv. i. O.
[120] Юхананов: Моментальные записки, 545.
[121]Ebd. 227f.
[122]Юхананов: Моментальные записки, 352, Hv. i. O.
[123]Ebd. 353.
[124]Ebd. 366.
[125] Auf russisch z.B. Тынянов, Юрий: Кюхля. Москва: Художественная Литература, 1989; auf Deutsch etwa in der Übersetzung von Maria Einstein als Tynjanov, Jurij: Wilhelm Küchelbecker: Dichter und Rebell. Historischer Roman. Zürich: Diogenes, 1990.
[126] Юхананов: Моментальные записки, 354.
[127] Deleuze/Parnet, „Von der Überlegenheit der anglo-amerikanischen Literatur“, 59.
[128] Vgl. Hager, Isabella: „Gebrochenes Zusammenfügen.“ In: Der Standard, 20. März 2007.
[129] Persönliches Gespräch des Verfassers mit Grigorij Zel'cer im Mai 2010, zum Projekt vgl. auch die Aufsatz- und Kritikensammlung Книга отражений. Москва: LaboraTORIJA, 2009.
[130] Юхананов: „У тебя в руках твоя голова“, 9. Absatz.
[131] Юхананов:„Театр – территория раскрытия универсального потенциала личности“, 33.
[132] Ebd. 34.
[133] Ebd.
[134] Юхананов: „Теория видеорежиссуры“, 14. Absatz.
[135] Юхананов: „У тебя в руках твоя голова“, 4. Abschnitt.
[136] Сильвестров: „Интервью Бориса Юхананова эксклюзивное и полное“,2. Abschnitt.
[137] Юхананов: Моментальные записки, 374.
[138] Deleuze/Guattari: Kafka, 116, Hv. i. O.
[139] Vgl. dazu etwa Vertov, Dziga: „Kinoglaz.“ In: Albersmeier, Franz-Josef (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart: Reclam, 1988, 51-33.
[140] „В отличие от кино, видео - недискретный вид искусства. Видео мыслит единой непрерывной линией.“ Юхананов: „Теория видеорежиссуры“, 2. Absatz.
[141] Ebd. 3. Absatz.
[142] Ebd. 7. Absatz.
[143] Vgl. Marshall McLuhans kanonisches „The medium is the message.“
[144] Юхананов: Моментальные записки, 220f.
[145] Ebd. 401, Hv. i.O.
[146] Vgl. http://you-mir.ru/biografiya (13.01.2013), 2. Abschnitt.
[147] Юхананов: „Перформанс и театр“, 306.
[148] Сумасшедший Принц: Игра в XO, R: Boris Juchananov, Russland/UdSSR 1987-2005, Video, 63min, 00:38:18 – 00:45:10.
[149] Юхананов: „Перформанс и театр“, 307.
[150] Юхананов: Моментальные записки, 187f.
[151] Юхананов: „Теория видеорежиссуры“, 8. Absatz.
[152] Ebd. 10. Absatz.
[153] Бахтин, М. М.: „Из записей 1970-1971 годов.“ In: Ders.: Эстетика словесного творчества. Москва: Искусство, 1979, 336-360, hier 342, Hv. i. O.
[154] Сильвестров: „Интервью Бориса Юхананова эксклюзивное и полное“, 6. Abschnitt.
[155] Derrida, Jacques: „Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva.“ In: Kammer, Stefan/Lüdeke, Roger (Hg.): Texte zur Theorie des Textes. Stuttgart: Reclam, 2005, 55-73, hier 66.
[156] Ebd. Hv. i. O.
[157] Derrida, Jacques. Grammatologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983, 17, Hv. i. O.
[158] Derrida: Grammatologie, 35.
[159] Юхананов: Моментальные записки, 186, Hv. i. O.
[160] Бахтин:„Проблема речевых жанров“, 240.
[161] Goethe, JohannWolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. München: Carl Hanser, 1985, 9.
[162] Бахтин: „Искусство и ответственность“, 8.
[163] Юхананов: Моментальные записки, 2.
[164] Бахтин, Михаил: „Формы времени и хронотопе в романе. Очерки по исторической поэтике.“ In: Ders.: Вопросы литературы и эстетики. Москва: Художественная литература, 1975, 534-407, hier 283, Hv. i. O.
[165] Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008, 60, Hv. i. O.
[166] Бахтин: „Формы времени и хронотопе в романе“, 284, Hv. i. O.
[167] Bachtin: Chronotopos, 61, Hv. i. O.
[168] Бахтин: „Роман воспитания и его значение в истории реализма“, 195.
[169] Vgl. Бахтин: „Роман воспитания и его значение в истории реализма“, 201.
[170] Ebd. 197f.
[171] Юхананов: Моментальные записки, 48.
[172] Ebd. 10.
[173] Юхананов: Моментальные записки, 26.
[174] Ebd. 36.
[175] Ebd. 135.
[176] Ebd. 352f.
[177] Ebd. 400.
[178] Ebd. 534.
[179] Ebd. 211.
[180] Ebd. 651, Hv. i. O.
[181] Юхананов: Моментальные записки, 508.
[182] Ebd. 546, Hv. i. O.
[183] Ebd. 554.
[184] Holquist, Michael: „The Surd Heard: Bakthin and Derrida.” In: Morson, Gary Saul (Hg.): Literature and History. Theoretical Problems and Russian Case Studies. Stanford: Stanford University Press, 1986, 137-156, hier 148.
[185] Vgl die Aussage von Rainer Grübel: „Es gibt keine von der Handlung des einzelnen abgelöste Wahrheit.“ Grübel, Rainer: „Bachtins Philosophie der ästhetischen Handlung und ihre Aktualität.“ In: Bachtin: Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit, 349.
[186] Бахтин: „К философии поступка“, 34f.
[187] Bachtin:Zur Philosophie der Handlung,80f.
[188] Бахтин:„К философии поступка“, 38, Hv. i. O.
[189] Bachtin: Zur Philosophie der Handlung, 88, Hv. i. O.
[190] Бахтин: „К философии поступка“, 35.
[191] Bachtin: Zur Philosophie der Handlung, 82
[192] Oder genauer: die Abhängigkeit des Gedanken vom der Handlung, denn es gibt, laut Bachtin, keinen Gedanken ohne die Handlung des Denkens, also nur „Gedanken-Handlungen“.
[193] Бахтин: „Проблема содержания, материала и формы в словесном художественном творчестве", 269, Hv.i.O.
Auf Deutsch übersetzt als „das ästhetische Objekt in seiner rein künstlerischen Eigenart und Struktur“ (Architektonik) bzw. „die das ästhetische Objekt verwirklichende, teleologisch verstandene Struktur des Werks“ (Komposition) in Bachtin: „Das Problem von Inhalt, Material und Form im Wortkunstschaffen", 104, Hv. i. O.
[194] Vgl. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, passim.
[195] Юхананов: Моментальные записки, 116, Hv. i. O.
[196] Юхананов: Моментальные записки, 455.
[197] Ebd. 457, Hv. i. O.
[198] Юхананов: Моментальные записки, 545, Hv. i. O.
[199] Ebd. 230f.
[200] Юхананов: Моментальные записки, 232.
[201] Deleuze/Parnet: „Von der Überlegenheit der anglo-amerikanischen Literatur“, 48.
[202] Юхананов: Моментальные записки, 433.
[203] Юхананов: Моментальные записки, 139f.
[204] Ebd. 598.
[205] Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung. Band I. Zeit und historische Erzählung. München: Fink, 1988, 17.
[206] Ebd. 87.
[207] Ebd. 71.
[208] Юхананов: Моментальные записки, 640, Hv. i. O.
[209] Ebd.
[210] Юхананов: Моментальные записки, 641f.
[211] In diesem Zusammenhang kann auf Derridas Figur der différance verwiesen werden, vgl. Derrida, Jacques: „Die différance.“ In: Ders.: Randgänge der Philosophie. Wien: Passagen, 1999, 31-56.
[212] Юхананов: Моментальные записки, 645.
[213] Vgl. ebd. 646.
[214] Deleuze/Parnet: „Von der Überlegenheit der anglo-amerikanischen Literatur“, 48.
[215] Юхананов: Моментальные записки, 651. Hv. i. O.
[216] Persönliches Gespräch mit Grigorij Zel’cer, Mai 2010.
[217] СинеФантом, 15 (28.11-05.12.2012), Nr. 268, 8.
[218] Nancy, Jean-Luc: Die herausgeforderte Gemeinschaft. Zürich: Diaphanes, 2007,12.
[219] Nancy, Jean-Luc: Die undarstellbare Gemeinschaft. Stuttgart: Edition Schwarz, 1988,38.
[220] Ebd. 45.
[221] Юхананов: „Перформанс и театр,“ 308.
[222] Юхананов: „Я хотел бы заниматься тем, чего нет и быть не может“, 341.
[223] Persönliches Gespräch mit Grigorij Zel’cer, Mai 2010.
[224] Nancy in einer Diskussion mit Avital Ronell und Wolfgang Schirmacher, zit. nach Elsaesser, Thomas: „Post-heroische Erzählungen. Jean-Luc Nancy, Claire Denis und Beau Travail.“ In: Kappelhoff, Hermann/Streiter, Anja (Hg.): Die Frage der Gemeinschaft. Das westeuropäische Kino nach 1945.Berlin: Vorwerk 8, 2012, 67-94, hier 79.
[225] Юхананов: „Я хотел бы заниматься тем, чего нет и быть не может“, 339.
[226] Groys, Boris: Das kommunistische Postskriptum. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006, 18.
[227] Groys: Das kommunistische Postskriptum, 35.
[228] Ebd. 59.
[229] Юхананов, Борис: „Сверлия.“ In: СинеФантом, 15 (28.11-05.12.2012), Nr. 268, 2-4, hier 2.
[230] Ebd.
[231] Юхананов: „Сверлия“, 4.
[232] Ebd.
[233] Юхананов: „Из дневника“,75.
[234] Deleuze/Guattari: Kafka, 116.
[235] Deleuze, „Die Literatur und das Leben“, 11.