Der kleine Tanz des großen Gottes Heinrich
Kerstin Holm | Frankfurter Allgemeine Zeitung | 29 March 2001 | review

MOSKAU, Ende März

Die Einsicht, daß alles Vergängliche nur ein Gleichnis sei, gehört in Rußland zu den menschlichen Grunderfahrungen. Bauprojekte werden nicht fertig, Straßen brechen irgendwo ab, Lebensläufe erscheinen hinfällig wie trocken Gras. So ist es nicht verwunderlich, daß Goethes „Faust“ als Drama vom titanischen Einzelmenschen hier nie auf besondere Anteilnahme stieß. Zu einer Gesamtaufführung der Tragödie erster Teil in russischer Sprache kam erst zum Goethe-Jubiläum vor zwei Jahren (F.A.Z. vom 17. Mai 1999). Boris Juchananow, dessen ingeniöse Inszenierung damals ein Fragment geblieben war, hat jetzt auf der Bühne des Moskauer Stanislawski-Theaters eine um viele dramaturgische Schichten bereicherte Arbeit vorgestellt, die eine gewisse Abgeschlossenheit aufweist.

Dafür aber wurde der Text rabiat gekürzt. Ganz im russischen Geist gibt Juchananow den Faust aus betont himmlischer Perspektive. Den Prolog im Himmel hat er mit Hilfe von Zirkuskunststücken und musikalischen Einlagen zu einer Haupt- und Staatsaktion aufgebläht, die Liebesgeschichte mit Gretchen hingegen auf ihre Grundzüge reduziert. Die Inszenierung besticht insbesondere vor dem Hintergrund der anhaltenden dramaturgischen Dürre im theaterbegeisterten Moskau durch ihre überfließende Imaginationskraft: Man erlebt simultan - ein Mysterienspiel, eine Volksbelustigung, ein Puppenspiel. So wird die Szene in sakrale, komische und mechanisch-konstruktive Details aufgefächert. Juri Charikows Bühnenbild sekundiert dabei mit einem minimalistischen, die Sicht auf die Bühnentechnik, freilassenden Raum, in dem geometrische Symbolformen mit goldverzierten Kultgeräten und Götterkutschen kontrastieren.

Juchananows Herrgott tritt auf als Direktor einer theologischen Zirkusvorstellung. Die Krone seiner durch einen massigen  Himmelsball symbolisierten Schöpfung repräsentieren vier Mitglieder des Moskauer Kuklatschow-Katzentheaters, die schnurrend auf dessen mobilem dreirädrigen Thron hocken. Eine schwarze Katze, die bei ihren Turnübungen zunächst eine Mondsichel, von einem Mast stößt, sich dann aber an Gottes Busen hangelt, scheint die Gnade des Höchsten sowohl gegenüber den Verirrungen des Titelhelden als auch angesichts der Störmanöver des Seelenmäuse jagenden Teufelskaters zu veranschaulichen. Auch unsichtbar bleibt der Herr im Folgenden als Fädenzieher und Experimentator gegenwärtig, während seine sich dem Publikum durch Mannequin-Gebärden als Idealwesen empfehlenden Engel das eigentliche Drama verfolgen.

Nach dem Prinzip permanenter Umgestaltung tauschen die Darsteller von Faust und Mephistopheles auf halbem Weg die Rollen. Oleg Chaibullin, eine bezwingend komische Begabung, verkörpert den vom Himmel auf Faust losgelassenen Mephistopheles, nachdem ihn ein sibirischer Schamane aus einer als Pudel verkleideten Katze in einen Menschenteufel verwandelt hat – und fortan gibt er dazu noch eine Art vampirische Marionette. Ein Kabinettstück ist sein Duett mit dem Schüler, bei welchem seine pantomimische Totaloperation einen Michelangelo-Adam in einen zotigen Zombie verzaubert. Andrej Kusnezows Faust ist ein von Weltekel geplagter Egomane mit deutlicher Krisis der Lebensmitte, den der dämonische Versucher von seiner Diogenes-Existenz auf dem Gelehrten-Podest herab auf den blutroten Bühnenboden der Leidenschaften lockt. Den Tanz des Lebens muß er dort erst noch lernen: Wenn er bei den ersten Gehversuchen stolpert wie ein Kleinkind, um sich dann selig lächelnd an, seiner eigenen Disco-Improvisation zu berauschen, zeigt das den Größenwahn des kleinen Gottes der Welt.

Mit dem Rollenwechsel wird der Mephisto der Gretchen-Intrige zu einem gesetzten, weltläufigen Herrn, der sich weitgehend als Regisseur an den Bühnenrand zurückzieht. Chaibullins Marionetten-Faust springt vor Verliebtheit wie ein Reh, hechelt seine leidenschaftliche Hymne an Gretchen wie ein Hund zu ihren Füßen, um sich nach dem Vollzug des Glückes laut schnarchend zu entspannen. Das himmelsstürmende Individuum ähnelt einer albern-grotesken Figur von James Carey. Freilich fängt dieses Versuchskaninchen göttlicher Fädenzieher den Zauber der menschlichen Tragikomödie mit selten gesehener Anmut ein und enthält unvergleichlich mehr Goethesche Poesie als jeglicher schwerfällige Übermensch beziehungsweise dessen diverse Denunziationsformen.

Daß die musizierenden Engel in der zweiten Hälfte gelegentlich des Guten zuviel tun und daß die Schauspieler ihre Texte streckenweise nachlässig deklamieren, sind Schwächen, die an der Stärke dieses denkwürdigsten Moskauer Theaterereignisses der letzten Jahre kaum etwas schmälern können. Um so seltsamer, daß die russische Kritik sich von den virtuos beschworenen Irrfahrten der menschlichen Seele nicht mitreißen ließ: Von Faust erwartet man dort einfach große Gesten. Deshalb verziehen es die Rezensenten Juchananow insbesondere nicht, daß der Held von einem Rüpel ex machina mit einem Mobiltelefon von seinem Selbstmordvorhaben abgebracht wird. Des Unbehausten Fragen nach dem Sinn von Erkenntnis, Forschung, Liebe und dem Leben überhaupt möchten in Rußland heute offenbar nur wenige nachgehen.