Das Theater — ein Garten
Sebastian Kaiser | Der Freitag | 11 August 2000Original

GEGEN DEN STROM Regisseur Boris Juchananow sucht nach Wegen aus dem Untergrund

Seine Regiekollegen und das Feuilleton nennen ihn den "schlauen Fuchs" und versuchen damit, dem Konglomerat von Selbststilisierung und Schaffenstrieb des derzeit wohl außergewöhnlichsten Theatermachers Russlands einen geeigneten Begriff zu geben. Der 43-jährige Boris Juchananow fühlt sich von diesem Titel sichtlich geschmeichelt. Er streicht über seinen langen Haarzopf und zieht den in der Zunft üblichen schwarzen Anzug zu recht.

Ausgesprochen nobel wirkt dieses Outfit im Gegensatz zu seiner kahlen Einzimmerwohnung, die im Parterre eines Neubaus aus der Breschnew-Ära am Rande Moskaus liegt. Neben Bett und Fernseher bildet ein Jugendstilschrank, vollgesteckt mit Hunderten von Videokassetten, die seine Arbeiten dokumentieren, das einzige Mobiliar. Häppchen wird er daraus präsentieren und unermüdlich mit einem Endloskommentar unterlegen - eine "Theaterlektion", die ohne Pause erst nach 12 Stunden um 6 Uhr im Morgengrauen beendet ist.

Für ihn ist es lediglich eine Einleitung oder erste Einweihung in sein von mystischen Impulsen umhülltes Lebenswerk. Er entschwindet daraufhin zur Probe seines Schauspielkurses an der GITIS, der Staatlichen Theaterschule Moskaus, und wird sich abends, versteckt vor dem Auge der Öffentlichkeit, als Leiter der Gruppe MIR (Meisterklasse individueller Regisseure) der Erschaffung eines neuen "Theatermythos", des "Theaters der Zukunft", widmen. Sieben Tage die Woche probt und diskutiert er dort, ein Arbeits- und Lebensverband, in dem Geld keine Rolle spielt (Löhne werden nicht gezahlt), der jedes Privatleben und auch jede Außenwelt ersetzt.

Denn mehr als die Hoffnung auf internationale Anerkennung oder finanziellen Erfolg ist es das Bewusstsein des Genius, das Juchananows Leben im Theater aufgehen lässt. Den legendären Ruf, den er sich nicht nur bei Theaterinsidern durch anarchistische Performances und mystische Happenings im Leningrader Untergrund der 80er Jahre erworben hat, nutzt der "schlaue Fuchs" heute dazu, um mit den Zuschauererwartungen Versteck zu spielen. In den 90ern nämlich veränderte er seinen Stil radikal, tauchte ab und zu aus dem Untergrund auf und präsentierte in Bruchstücken sein Jahrzehnt-Projekt Sad / Der Garten. Ausgehend von Tschechows Kirschgarten stellt das Projekt eine Verkettung von Theater-und Tanzinszenierungen, von Rauminstallationen und Ausflügen ins filmische Medium dar. Keiner außer dem Initiator selbst, der alle Teile dieser Megainszenierung überblicken könnte, die mal halböffentlich auf einer Datscha, in Privatwohnungen und mal im Glanz etablierter Theaterhäuser aufgeführt wurde und deren Struktur absichtsvoll ein organisches Wuchern abbilden soll.

Nahezu die gesamten 90er Jahre über inszenierte Juchananow mit der Gruppe "MIR" (das Akronym als Wort gelesen steht im Russischen auch für Welt und Frieden) an diesem Opus Magnum. "Ganz Russland unser Garten" sagt die Figur des Trofimow bei Tschechow und Juchananow nimmt ihn beim Wort, indem das Stück lediglich den Ausgangspunkt bildet für Verzweigungen und Abschweifungen, die das imaginierte Leben der Figuren variieren und ergänzen. In Performances und Installationen wird so den bislang unbebilderten Seiten des Stücks Raum gegeben und gleichzeitig wird Tschechow assoziativ vereinnahmt und fortgeschrieben.

Kern des Projekts bildet eine Serie von fünf, vielleicht aber auch mehr, Theater-Inszenierungen, die alle aufeinander aufbauen: den sogenannten "Regenerationen". Wo es sonst das Wesen des Theaters ausmacht, dass ein Stück entsteht, um dann mit seinen Aufführungen langsam abzusterben, sucht Juchananow nach einem Weg, eine Inszenierung wachsen, sie immer größer und komplexer werden zu lassen. Jede "Regeneration" nimmt sich die vorausgegangene als Grundlage, es kommen neue Figuren, neue Stücktexte, klassisches und gerade erst entstandenes Material hinzu. Was entsteht, ist ein theatraler Hypertext. Sämtliche gängige und weniger gängige Theaterstile, vom psychologisch-realistischen bis zum expressiv-semiotischen, formal-visuellen oder rhythmisierten Sprechtheater, aber auch rein rituelle Abläufe werden integriert. So fließen in die Inszenierung fast alle Schauspielmethoden des 20. Jahrhunderts ein. Juchananow, der ab und an den Artaud in sich fühlt, baut an einer Brücke von Konstantin Stanislawski zu Jerzy Grotowski, von Tairow bis zu Robert Wilson.

Zu den bekanntesten Bestandteilen des Projektes Sad gehören zwei Ballettinszenierungen, die im Petersburger Schmuck- und Prestigetheater der Eremitage aufgeführt wurden. Bei einer dieser Publikumserfolge, den Zikaden, handelte es sich um die phantasievolle Visualisierung eines bei Tschechow nur verhalten angedeuteten Traums von Trofimow, dem fortschrittsgläubigen ewigen Studenten. Bei Juchananow sitzt er nun in einem Flugzeug und hat schreckliche Angst abzustürzen. Allerdings waren weder das Publikum noch die Presse über diesen Hintergrund informiert, sie kamen aber auf eigene und neue Interpretationen. Unter dem Strich befand man: Eine herausragende, ästhetisch feinfühlige Arbeit. Am Ende des Stückes hört das Publikum ein schepperndes Lachen vom Tonband. Es handelte sich um die aufgenommene Stimme des Regisseurs, der seine Zuschauer auslacht.

Mit ähnlichem Mut zum frechen Verkleidungsspiel mit kommerziellen Erwartungen und Zuschauerhaltungen marschierte die Gruppe des Sad in die Studios von Mosfilm und drehte dort eine trashige, jetzt zum Kultfilm avancierte Parodie des bekannten sowjetischen Kolchosstreifens der 30er Jahre Die Traktoristen. Aus dem schönfärberischen und überaus friedfertigem Original machten die Sad-Schauspieler ein blutrünstiges Splatterfilmspektakel, bei dem noch die leeren Wodkaflaschen beim Krieg der Kolchosen als Mordwaffen zum Einsatz kommen.

Zur Gesamtaufführung des Projektes Sad -geschätzte Dauer sieben Tage - ist es bislang nie gekommen, denn, so erzählt der Regisseur selbst, nachdem er gerade einen Vertrag für die Anmietung der Moskauer Manege (eine Ausstellungshalle in unmittelbarer Kremlnähe) unterschrieben hatte, sicherte sich Oligarch Boris Beresowski das Objekt und brachte dort eine Autoausstellung unter. Damit konnte der Künstler nicht konkurrieren und das Projekt brach zusammen.

Juchananow will also dezidiert kein Akteur des kommerzialisierten Kulturbetriebs sein. Und tatsächlich scheint ihn die selbstgewählte soziale Abschottung, der Abstand von Zuschauererwartungen und theaterpolitischen Zwängen vor kreativer Abnutzung bewahrt zu haben. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen sieht er sich auf jeden Fall nicht als Opfer der konservativen und in Biederkeit verflachten russischen Theatermaschinerie.

Dass Juchananow mit seinem Experimentierwillen heute fast alleine steht, erstaunt um so mehr, hält man sich die strukturellen Möglichkeiten vor Augen, die die Theaterstadt Moskau bietet. Im Vergleich zur kränkelnden Theaterszene Westeuropas erscheint Moskau auf den ersten Blick wie das Paradies. Weit über 100 Theater und Theatergruppen zeigen zusammen fast 1000 Stücke und können in der Regel mit ausverkauften Sälen rechnen.

Die Ursachen dieses Theaterbooms sind jedoch eigentümlich. Die große Anzahl an Schauspieltruppen konkurriert mit lediglich 10-15 Kinohäusern und noch weniger Fernsehkanälen. Für den breiten verarmten Moskauer Mittelstand bilden die Theater oft die einzige finanziell zu verkraftende Möglichkeit, in Gesellschaft abends auszugehen. Das bedeutet auch, dass das Theater hier mehr als anderswo die klassische Rolle der leichten Abendunterhaltung. übernimmt. Und, so die Ironie des Schicksals alles Populären, das geht in erster Linie auf Kosten der Vielfalt im Angebot. Neben viel Klamauk wird vor allem die dramatische Umsetzung klassischer Texte bedient - meistens recht konservativ vom Blatt inszeniert oder in den gewagteren Fällen hübsch mit sphärischer Musik oder Lichtinstallation untermalt.

Man setzt auf Altbewährtes: Ausdruck dieses Festhaltens an den Traditionen ist denn auch die Tatsache, dass die großen traditionsreichen Theater wie das Moskauer Künstlertheater, das Tanganka-Theater oder das Lenkom von greisen Regiestars geleitet werden, deren Glanz- und Ruhmzeiten Jahrzehnte zurückliegen. Gerade erst wurde an die Stelle des im Juni verstorbenen Oleg Jefremow, des Intendanten des Künstlertheaters, sein Altersgenosse Oleg Tabakow berufen. So produktiv und im übrigen nicht unbedingt ästhetisch konservativ, wie das Beispiel des 82jährigen Jurij Ljubimow zeigt, diese Generation auch ist, so sehr verhindern sie doch das personelle Nachrücken einer jüngeren Generation. Und damit auch eine Umorientierung des Publikums.

Zur Zeit reduziert sich das Interesse der Zuschauer häufig darauf, den einen oder anderen bekannten Schauspieler auf der Bühne zu sehen. Und dieses Bedürfnis machen sich Spekulanten zu Nutze. Sie kaufen das Kartenkontingent des Theaters auf und bieten die Karten in der Metro an kleinen Ständen zum zehnfachen des ursprünglichen Preises wieder an. Die Karte kostet dann zwischen 10-70 Mark. Die soziale Schicht, die sich diese Preise leisten kann, ist die neu entstehende Geschäftselite, die im Straßenbild kaum sichtbar ist. An politischen oder gar ästhetischen Auseinandersetzungen im Theater ist sie nicht interessiert. Unterhaltung und Entspannung wird gewünscht.

All diese Umstände drehen den Theaterexperimenten zunehmend die Luft ab. An den Rändern lässt sich nur schwer wirtschaften. Mit Ausnahme der Schule der dramatischen Kunst des Regie-Gurus Anatoli Wassiljew - Juchananows Lehrer -, der ein kleines, elitäres Theater neben dem Moskauer Arbat für 40 Zuschauer leitet, und der Tanztheater-orientierten Truppe Roman Wiktjuks, gibt es keine gesicherte Institution oder Infrastruktur in Moskau, die sich ausdrücklich dem Experiment verschrieben hätte. Wie alle Theater bekommen Wassiljew und Wiktjuk bescheidene staatliche Mittel, verstehen es darüber hinaus aber wohl glänzend, Mittel aus dem Westen in ihre Arbeit zu integrieren.

Andere Regisseure, die versuchen, die ausgetretenen Pfade der Schauspielerführung zu verlassen, sind, wie Anton Adasinko, emigriert. Er leitet jetzt sein eigenes Theater Derevo (Der Baum) in Hellerau bei Dresden. Aber auch Projektemigrationen russischer Regisseure ins sogenannte nahe Ausland, will heißen nach Kiew, Riga oder Vilnius sind üblich, erweisen sich die Theater dort offenbar ästhetischen Neuerungen manchmal aufgeschlossener gegenüber.

Eine Stufe zwischen dem freien und dem wuchtigen staatlichen Theater bildeten früher die kleineren Bühnen, die meist in der Perestroikazeit entstandenen Studio- und Kellertheater - allein in Leningrad waren es über 600. Die wenigsten davon haben die 90er Jahre überlebt. Die beliebten Regisseure wurden von den Staatstheatern geschluckt, wo sie jetzt dem Markt zu Munde inszenieren. Als nennenswerte Institutionen haben sich hier das Theater Jugo-Sapadnyj, die Tabakerka, (geleitet vom bereits erwähnten Oleg Tabakow), das Theater Okolo und Ermitage gehalten.

Boris Juchananow, um wieder auf ihn zurückzukommen, kann jedoch nicht einmal auf diese schmale Arbeits- und Lebensfinanzierung zurückgreifen. Seine Wege, an Geld heranzukommen sind eher abenteuerlich. Unterstützend zur Seite steht ihm seit 15 Jahren der Starbühnenbilder Juri Charikov, mit sämtlichen Preisen für Szenographie bedacht kann er seinen Wert an den unterschiedlichsten Theatern selbst diktieren. Für den Freund arbeitet er dagegen kostenlos.

Dem Berliner Publikum könnte Juchananow noch vertraut sein, gastierte er doch 1986 im Rahmen der "Berliner Festwochen" im Begleitprogramm seines Lehrers Wassiljew. Zusammen mit einer Gruppe von Schauspielern der verschiedensten Theater Moskaus hatte Juchananow drei Jahre lang das Stück Der Beobachter des jetzt in Berlin lebenden Alexej Schipenko geprobt. Es ging um die erzwungene und teilweise auch frei gewählte Untergrundexistenz der sowjetischen Rockmusiker; in die Inszenierung flossen die realen Lebensgeschichten damals populärer Gruppen wie Kino, Aquarium oder Vabanque sein. In Moskau lediglich im Wohnzimmer vor Freunden aufgeführt, stellte man Juchananow in Berlin plötzlich das Metropoltheater am Nollendorfplatz zur Verfügung. Die so entstandene Disproportionalität aus Raumkonstellation und Stückkonzeption kompensierte Juchananow, in dem er das Stück einfach in umgekehrter szenischer Reihenfolge aufführte. Die internationalen Gastspielangebote, die daraufhin eingingen, erreichten ihn nicht, da es zum Konflikt mit seinem Lehrer Wassiljew gekommen war.

Aus trotzigem Protest zog er sich nun völlig in den sowjetischen Untergrund zurück und schwörte erst mal allem gelernten, allem Handwerk der formalen, analytischen Textinterpretation ab. Innerhalb der folgenden vier Jahre vollzog Juchananow auf diese Weise die komplette Entwicklung neoavantgardistischer Ansätze, die in Europa und Amerika seit den 60er Jahren entstanden waren, nach. Er experimentierte mit Ritualen und Mysterien, um die Grenzen der Selbstidentität auszuloten. Schließlich mündeten diese Experimente in einige Stücke. In Octavio etwa wurden sie mit von Juchananow geschriebener theoretischer Gesellschaftsprosa unterfüttert und in ein komplexes Figurengeflecht eingebunden, angefangen von antiken Göttern und Sagenhelden bis hin zu Stalin und Hitler.

Aus dieser Zeit stammt auch das in Zusammenarbeit mit einer weiteren legendären Gestalt des Leningrader Untergrunds, dem früh verstorbenen Komponisten und Schauspieler Sergej Kurjochin entstandene megalomane Projekt Der verrückte Prinz. Es sollte ein Film auf 1000 Videokassetten werden. Basierend auf einem gigantischen Drehbuch, das lediglich die Strukturen vorgab, wurde mit Handkamera auf der Straße, in Wohnzimmern oder in öffentlichen Gebäuden gedreht. Die Schauspieler improvisierten, Passanten wurden spontan mit einbezogen und so der Zufall zum erwünschten Co-Autor des Projekts. Ausschnitte dieses filmischen Werks sollen Wim Wenders tief beeindruckt haben.

Der verrückte Prinz blieb Juchananows künstlerischer Hauptantrieb bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion, als die von der staatlichen Doktrin künstlich angestauten Energien auf einmal ihre Freisetzung erlebten. Juchananow fand zu Kunstformen der Subversion und Zerstörung. Dieser Impuls setzte sich in der Atmosphäre des Goldgräberkapitalismus und der Kommerzialisierung aller Lebensbereiche Russlands in den 90er Jahren fort. Vermischt mit Formen der Anpassung an den Markt werden daraus häufig intellektuell-mystifizierende Schauspiel- und Ganzheitsutopien, von denen auch Juchananow nicht frei ist. Es ist der vielleicht normale Übergang von einer sinnentleerten Kunst, die nur noch das Morbide und Perspektivlose einer untergehenden Gesellschaft wiederspiegelt hin zu einer, die unter den wirtschaftlichen Diktionen des Kapitalismus den konventionsfreien Raum der Kunst benutzt, um dort individuelle Lebenskonzepte zu entwerfen - ähnliche biographische Bewegungen lassen sich auch bei DDR-Performern, wie etwa Jana Milev, beobachten.

In der Gegenüberstellung von Juchananows Kunstemanationen vor und nach den 90er Jahren ließe sich das gesellschaftliche Identitätsdelirium Russlands symptomatisch erhellen. Eine Chance jedoch, seine Arbeiten in dieser Chronologie zu präsentieren, hat Juchananow derzeit in Russland nicht. So wird er weiter mit großer Ausdauer seine Videokassetten zeigen und hoffen, dass sie irgendwann zu den Budgettöpfen nach Westeuropa getragen werden.